Martha suchte das Salz.
Es war wie verhext. Vor einem Monat noch war es bei den Suppengewürzen gewesen. Und jetzt kugelten hier Überraschungseier herum.
Martha äugte nach einer Bedienung. ABER ES GAB KEINE BEDIENUNG MEHR.
Das ältere Fräulein (sie bestand auf dieser Anrede) seufzte: Es gab auf dieser Welt überhaupt keinen Service mehr. Alles musste man sich selber organisieren: das Essen am Tresen… das Tramticket am Automaten. Wenn sie da an diese netten Trambilleteure von früher dachte… DAS WAREN NOCH MÄNNER GEWESEN. NICHT EINFACH SO GRÄSSLICHE BLECHKISTEN, DEREN FUNKTIONSGANG SIE BIS HEUTE NOCH NICHT KAPIERT HATTE.
Martha stand jetzt vor dem Regal mit den Douche-Gels. Und: «Ich sollte da mal ran, gute Frau!» – puffte sie ein junger Mann mit Schlangen-Tattoo am Hals vom Regal weg. «Fräulein!», sagte Martha spitz. «Leck mich», blaffte der Schlangen-Mensch. Und streckte Martha den Mittelfinger entgegen. DIE BARMHERZIGKEIT DES ALTERS HATTE MARTHA EINEN HÖRSCHADEN BESCHERT. Deshalb ging ihr die Aufforderung glatt am Arsch vorbei.
Allerdings musste sich das alte Fräulein doch sehr wundern: Die junge Generation streckte heute dem Gegenüber einen mickerigen mittleren, aufgestreckten Finger zum Gruss entgegen… KEIN HÄNDESCHÜTTELN MEHR. Oh Jammertal!
Martha nahm den Mittelfinger in ihre knochige Hand: «Freut mich, junger Herr. Ich bin Martha Kunzenstein. Wissen Sie vielleicht, wo das Salz ist?» «Sehe ich wie ein Lexikon aus…», grinste das Bürschlein. Pfiff dann aber einen Mann in knielanger Arbeitsschürze herbei: «Sagen Sie der Alten mal, wo sie Salz finden kann…» Dann machte er sich aus dem Staub – mit drei Bade-Gel in der inneren Jackentasche.
Der Waren-Einräumer schaute Martha fröhlich an: «Mutti… was is?» «Ich bin keine Mutti. Sondern Fräulein Kunzenstein. Und ich suche Salz. Früher war es dort, wo jetzt die Kinder-Überraschungseier liegen». «Wollen Ei? Harter oder weicher?»
Martha atmete tief durch. Auch das war so anders in dieser neuen Zeit. Die Leute kapierten einfach nichts mehr. Als sie sich kürzlich ein Taxi an die Dornacherstrasse zu ihrer Freundin Nelly leistete, fuhr der mit ihr doch tatsächlich beim Goetheanum vor: «Haben gesagt Dornach…»
«Ich will kein Ei», redete Martha jetzt ziemlich laut zum Mann in der Schürze. «ICH MÖCHTE EIN PAKET SALZ!» «Isse zum machen Streu auf glattig Eis … oder Salz auf spiegeliges Ei?» Das Salz stand dann bei einer Reihe von Aktionspackungen mit Persil.
Als sich Martha mit dem blauen Päckchen an der Kasse anstellte, kam eine freundliche junge Frau auf sie zu: «Darf ich Ihnen zeigen, wie Sie das selber einscannen und dann bezahlen können. So müssen Sie künftig nicht warten. Und selbst ist die Frau… haha.»
«Fräulein» korrigierte Martha Kunzenstein spitz. Dann zeigte sie den Mittelfinger. Allerdings nicht etwa, um zu grüssen…