Zwillinge

Sie waren Zwillinge.

UND DOCH SO VERSCHIEDEN!

Die Leute blieben vor dem Doppelwagen stehen: «…sie ähneln sich wie ein Ei dem andern…»

DUMMES GESCHWÄTZ!

Denn äusserlich sahen sich Marc und Hans wohl ähnlich – aber ihre Seelen waren so verschieden wie Weihwasser und Essig.

Hans war ein Sonnenschein. Mit den strahlenden Augen des ersten Frühlingstags.

Marc hingegen – ein Quengelsack. Nerviger ­Rumbrüller. Schon mit sechs Monaten zeigten sich die ersten Zornesfalten über seinem spitzen Näschen.

Beim Krippenspiel wollte Hans der schenkende König sein.

Marc hingegen fand die Geschichte schon als ­Vierjähriger «fade». Er verlangte in der ­Kindergarten-VauVau, dass man die «Bremer ­Stadtmusikanten» statt diese Kitschorgie am Bau aufführe. Er hätte da gerne den Räuberhauptmann gespielt.

Wie gesagt: Feuer und Wasser.

In der Schule stellte Marc alles und jeden infrage. Er zettelte Streitereien an. Stiftete Unfrieden. Und hielt vor der Klasse grosse Reden, wie man das System ändern und die Lehrer entmachten müsse.

Hans hingegen: HARMONIESÜCHTIG. UND BLAUÄUGIG – LETZTERES MIT DEN LANG FLATTERNDEN WIMPERN VON GIRAFFEN.

«Ein schönes Kind», sagten sie über ihn.

Und: «So ein hässlicher Balg!», tobte die ­Menschheit über Marc.

Dabei – wie gesagt – sahen die beiden ­tupfengleich aus. Doch die unterschiedlichen ­Charaktere verliehen den Buben eben doch ganz verschiedene Züge.

Marc trat einer schlagenden Studentenverbindung bei. Dann der anarchistischen Vereinigung «NIEDER MIT DEN PFEFFERSÄCKEN!». Und schliesslich einer politischen Randpartei, die es sich zum Ziel gemacht hatte, die Welt zu ­verbessern (nun gut, mit diesem Slogan stand sie nicht alleine da).

Hans hingegen trieb seine Sehnsucht nach ­Harmonie ins Kloster. Er erhoffte sich dort die Liebe der Brüder. FRIEDEN. Und den Trost von IHM.

Bald aber musste Hans merken, dass der Satan auch in den Klostermauern umging. Es gab ­Intrigenspiele. Kleinkriege.

Alle strebten nach oben – doch nicht zu IHM. ­Sondern zum Stuhl der Macht.

Hans versuchte das Glück des Friedfertigen zu predigen. Zu schlichten. Zu vermitteln.

Doch das Kloster spottete nur über ihn. Und nannte ihn den Warmduscher-Mönch. (Das war eine ganz üble Verleumdung. Denn Hans duschte – als Teil seines Morgenfastens – jeden Tag mit ­Eiswasser.)

Frustriert und enttäuscht zog sich Hans in die karge Zelle zurück. Und schrieb an seinem Buch

«DIE WELT IM FRIEDEN!».

Es wurde 150-mal gedruckt. Und viermal ­verkauft.

Marc hingegen brachte es zum Parteipräsidenten.

Seine Reden wurden in allen revolutionären ­Weltblättern veröffentlicht.

Er gab Vorträge, pflaumte auf Talk-Sesseln die andern Gäste zur Schnecke. Und predigte die Streitkultur.

Als Pater Hans nicht zur Vesper erschien, warf das keine grossen Wellen. Erst als er beim Solo des «Te Deum» nicht einsetzte, merkte man seine Absenz.

Sie fanden ihn in seiner Zelle auf dem Steinboden. Er kam in die Katakombe. Halleluja. Und drei Vaterunser.

Marc hingegen wurde bei einer Rede über «DIE ZEHN ÜBEL DIESER WELT» kaltblütig von einem Geistesverwirrten niedergestochen. 72 Stunden lang war er Schlagzeile.

DANN GING MAN WIEDER ZUM ALLTAG ÜBER.

Und der Alltag heisst: Die Welt ist schlecht.

Und wurde weder von Hans noch von Marc ­verbessert.

Montag, 16. Januar 2017