Von der Omi mit der Schlüssel-Macke

Illustration: Rebekka Heeb

Wenn ich die Fotokisten durchwühle, um die Lebens­erinnerungen für ein Buch zu bündeln, kommt mir immer wieder die Omi in die Finger.Über ihrem weissen, gewellten Haar trägt sie ein hauchfeines Netz. Auf dem Schoss eine grosse Tasche. Und stets steckte sie in weiten, nachtblauen Blumenröcken, die ihr eine Freundin in Heimarbeit und auf einer laut ratternden Nähmaschine zusammengebaut hatte.

Die Kleider wechseln auf den Fotos. Die Tasche nicht. Es war ein rissiger Gräuel aus aller­härtestem Leder. Und sie wog gut zwölf Pfund.

Ein Pfund waren Pfefferminzrollen, Klosterfrau Melissengeist, Würfelzucker und Taschentücher, auf die sie jeweils draufspuckte, um unsere von Bärendreck und Mohrenköpfen verschmierten Gesichter abzurubbeln (WIR HASSTEN DAS!).

Das andere Pfund waren ein Traumdeutungsbuch, zwei Rosenkränze und ein Portemonnaie, in dessen Notenfach die vergilbte Familie in Kleinbildern steckte. Es steckte kaum je ein Nötchen dort. Aber im Münzfach klimperte viel Hartgeld, auch rostige Rappen (für den Milchmann) und hin und wieder ein Frankenstück, dass sie uns Kindern zusteckte: «Aber nichts daheim verraten – die denken sonst, ich hätte Klotz zum Versauen…»

Natürlich dachte das keiner. Die Kembserweg-­Omi lebte nämlich von einer mageren Rente und drei, vier Familien, bei denen sie Steinböden aufwischte und das Parkett bohnerte.

DIE ÜBRIGEN ZEHN PFUND TASCHEN­INHALT WAREN DANN SCHLÜSSEL.

SO OFFEN SICH DIE OMI NÄMLICH AUCH GAB – SIE WAR DIE VERSCHLOSSENSTE FRAU DER FAMILIE.

Natürlich hatte bei uns jeder seinen Tick: Milly ass beispielshalber Essiggürkchen nur mit Tannenhonig. Vater bestieg die ganze Umgebung und war auch vor der Jungfrau nicht zu bremsen. Und Onkel Alphonse nahm vor jedem Essen die Zähne raus, sodass meine genervte Mutter beim Sonntagsmenü jeweils einen Paravent um ihn herum aufbaute. ICH MEINE: WIR HATTEN ALLE IRGENDEINEN AN DER WAFFEL!

Aber die Schlüssel-Sache der Kembserweg-­Omi war dann doch etwas arg schräg. Sie sorgte immer wieder für lautstarke Diskussionen (um nicht zu sagen: für explosive Familienkräche).

Die Sache war so: Die Omi war umgeben von einer Horde Menschen, welche ihr an die Wäsche gingen. Immer wieder fehlte etwas aus ihrem alten Wäschekasten: mal ein Satz Unterhosen. Mal einer dieser fleischigen Büstenhalter. Oder dann ein Kissenanzug. Es ging nie um Bares. Oder um ihre kleine Schmuckschatulle mit dem Goldkettchen und dem gekreuzigten Jesus dran.

IMMER NUR UM DIE WÄSCHE.

«Wer will denn diese muffigen Lumpen schon», nervte sich meine liebe Mutter. Die Omi schaute dann mit grossen Augen in die Runde. Und hob ganz langsam die Schultern. Sie liess Unausgesprochenes in der Luft – so etwa: «ICH WEISS, WAS ICH WEISS.»

Aber sie sagte kein Wort. Und das jagte die andern natürlich noch höher auf die Palme. «Du glaubst doch nicht etwa, dass wir …», japste nun meine Mutter wutentbrannt. WIEDER GROSSE AUGEN. SCHWEIGEN. UND SCHULTERZUCKEN.

Das war nicht die Schwiegermutter, welche die Sonne brachte… So konnte es auch passieren, dass sie bei ihrer Schwägerin am Kaffeetisch sass und seufzend auf das Tischtuch stierte.

«WAS IST LOS?», tobte Milly ahnungsschwanger. SCHWEIGEN. Dann wieder ein Seufzer.

Milly baute sich drohend vor der Omi auf: «Jetzt sag es schon…»

SCHULTERZUCKEN. Und endlich: «Genau so ein Tischtuch fehlt mir seit zwei Wochen…» DA GING DANN ABER ZÜNFTIG DIE POST AB!

Natürlich nahm niemand die versteckten Anschuldigungen der Kembserweg-Omi richtig ernst – insbesondere da die Dinge doch irgendwann, irgendwo wieder auftauchten. Machte man sie triumphierend darauf aufmerksam, dass das Korsett ja da sei, zuckte sie wieder mit den Schultern: «Irgendjemand hat es zurückgelegt.»

Beim «Schlüssel-Fischer» war die Omi eine gern gesehene Stammkundin. Alle zwei Monate liess sie die Schlösser zu ihren diversen Zimmern wechseln. Zu jedem Schlüssel erstand sie dann noch einen sogenannten Sicherheitsstecker, einen goldfarbigen langen Stab, den sie – wenn die Türe mal abgeschlossen war – ins Schlüsselloch reindrehte. Und sich so natürlich immer noch nicht sicher fühlte, sodass auch die Schubladen mit Malschlössern abgeriegelt werden mussten. DESHALB ALSO: ZEHN PFUND GEKLIMPER IN DER ALTEN LEDERTASCHE.

DIE OMI HATTE JEWEILS GUT EINE STUNDE DRAUF, BIS DAHEIM ALLES ENTRIEGELT WAR. IHR LEBEN WAREN VERSCHLÜSSELTE STUNDEN.

Und dennoch fehlten wieder drei Waschlappen («von den ganz neuen!»). ODER DAS SCHWARZE TRAUERKORSETT.

Als die Kembserweg-­Omi mit 85 in ein Seniorenheim einzog, wurde mein Vater schon nach drei Wochen alarmiert: «Wir können die Frau nicht behalten. Sie veranstaltet hier einen Riesenwirbel. Überall tuschelt sie herum, es würde gestohlen. Seit zehn Tagen haben wir den Schlüssel-Fischer als Dauerauftrag im Haus…»

«Ich komme», knurrte mein Vater. Und blies eine Gewerkschaftssitzung zum Thema «14. Monatslohn fürs Staatspersonal» ab. Die Hausleiterin kam auf ihn zugesegelt. «Jetzt behauptet ihre Frau Mutter doch tatsächlich auch noch, Svetlana habe ihre Nachthemden gestohlen. ICH BITTE SIE! Svetlana ist 21. Und ihre Mutter trägt Barchent mit Enten. Dies in Grösse 58!»

Mein Vater hustete dann der Omi zünftig ins Gewissen: «Du hast doch eine Nuss! Jetzt entschuldige dich aber sofort bei dem lieben Fräulein Svetlana und…»

SCHULTERZUCKEN. SCHWEIGEN.

«Ja, denkst du denn, ein so schönes Mädchen würde deine vergilbten Fummel ins Bett anziehen!» SCHULTERZUCKEN. STILLE. DANN (etwas beleidigt): «Die waren fast noch neu … kaum zehn Jahre alt und…»

Nur dank der Engelszungen meines Vaters und dessen honigklebrigem Charme durfte die Omi bleiben. Ein halbes Jahr später wurde sie von höherer Stelle abberufen. Ihre letzte grosse Reise trat sie ohne Tasche in dieses Land an, wo die Tore schlüssellos offen stehen. WEISS DER HIMMEL, OB IHR SO ETWAS GEFALLEN KONNTE.

Jedenfalls hat Schlüssel-Fischer seinen Laden nach ihrem Ableben bald einmal schliessen müssen.

Dienstag, 10. Januar 2017