Vom schwarzen Engel und Tante Finnis Kropf

Illustration: Rebekka Heeb

Josefine war eine Hexe.

Zumindest flüsterte man das in der Familie (Mutterseite) herum. Josefine war Vaterseite. Und was von dort kam, war dem andern Ufer des Familientümpels eh immer suspekt (hätte ich Familiendünkel sagen sollen?).

Josefine war die älteste Schwester der Kembserweg-Omi. Wir nannten sie «Tante Finni». Und uns grauste ein bisschen vor ihr – ungefähr so wie vor einem Engerling im ­Erdbeerbeet. Oder einer Schnecke am Salat.

Das Grausen hatte nichts mit der hexerischen Fähigkeit von Finni zu tun. Sondern mit ihrem Kropf. Er war gross wie ein Wollknäuel für sechs Paar Strümpfe. Und sie trug ihn unter einem ­wollenen Rollkragen versteckt. Es sah aus, als wolle sie zum Kugelstossen gehen. Und habe den bleischweren Ball bereits zwischen Kinn und Hals eingeklemmt.

Natürlich war Tante Finni eine g u t e Hexe. Das musste selbst meine schrecklich vornehme ­Grossmutter Lydia (die mit dem Ypsilon in den Meyer-Eiern) zugeben: «Sie hat mir den ­Wagenschlag geöffnet, als ich mit Alphonse ­vorfuhr», erklärte sie beim Tee. «Und sie hat mich ‹Gnädig­ste› genannt. Als ich ihr ein Trinkgeld geben wollte, hat sie höflich abgelehnt – DAS IST GÜTE, MEINE LIEBEN, DIE GÜTE DER ARMENKLASSE!»

Auf Vaters Seite nannten sie Grossmutter Lydia eine Hexe. Und wir wissen jetzt warum.

Die Güte von Tante Finni zeigte sich für uns ­Kinder auf andere Art. Sie war die wunderbare Quelle für Colafrösche. Und das ging so: Wir heizten unsere Kindergarten-Freunde an (Kita-Kids, würde es heute wohl heissen?): «Wollt ihr den Kropf sehen? – Das Grausen ist gut einen Colafrosch wert…»

Also sammelten wir das Kropfgeld ein. Rannten mit all unsern Freunden zu Finni. Und brüllten von Weitem: «Schnall den Rollkragen runter…»

Den Kleinen gruselte. Der Kropf war die Horrorkiste jener Zeit. Nur live. Aber nicht minder ein Knaller, der unter die Haut ging.

Natürlich wurde Tante Finni, die Witwe und kinderlos war, immer zu den grossen Familien­festen eingeladen. Das gehörte sich so.

Sie ist «eine arme Haut», seufzte meine Mutter dann immer. «Sie hat als junge Frau schon eine Totgeburt gehabt. Und ihr Mann ist drei Jahre ­später vom Dach gestürzt, als er dort diese verdammten Tauben verjagen wollte…»

«Hatte sie den Kropf damals schon?», wollte Rosie wissen. «Seid nicht frech», wurden wir gemassregelt. «Tante Finni hat keinen Kropf. Nur einen geschwollenen Hals …» Mit einem geschwollenen Hals hätten wir keine hundert Colafrösche ­einsacken können. EIN KROPF WAR ETWAS GRAUSAM SCHAUDERHAFTES. ABER MACH SO ETWAS MAL DEN GROSSEN KLAR! Erwachsene waren manchmal schon sehr dumm.

Am meisten Aufhebens um Finni wurde an Silvester gemacht. Die Sippe traf sich stets in unserer Wohnung, weil da belegte Brötchen auf grossen Platten warteten. Asti Spumante perlte. Und Vater auch die trockenste Ziege spüren liess, dass in ihr eine heisse Frau steckte.

Der Hip aber war die Tante, die sich einen Wollschal um Kopf und Kropf geschlungen hatte. Und jedem die Karten las. Ihre Prophezeiungen fürs neue Jahr waren sicherer als sämtliche Wetterprognosen. Nur einmal, als sie der vornehmen Lydia «eine wunderbare Begegnung, in der Ihr Herz aufgehen wird, meine Gute!» voraussagte, brüllte die Sippe vor Lachen.

«Ach Finni, dieser trockene Furz bringt keinen mehr zum Vibrieren» – jaulte mein Vater. Und seine Schwiegermutter schickte ihn mit einem einzigen Blick in die Arktis. Als dann aber drei Monate später dieselbe Lydia mit einem ­spanischen Gärtner auftauchte, den sie mit ­glühenden Augen als «mein Fernando» vorstellte, vibrierte mein Alter, weil er das Vermögen der Oma davonschwimmen sah.

Wir Kinder liebten Tante Finni nicht nur wegen des lukrativen Kropfs, auch weil sie so wunderbar Geschichten erzählen konnte.

Etwa die Sache mit dem schwarzen Engel.

Er war ihr im Traum zwei Mal erschienen: «Seine Flügel waren so schwarz wie Pech. Sein Gesicht hatte er hinter einem grauen Schleier versteckt. Aber ich sah seine Augen – sie waren hell wie Sterne. Und er sagte zu mir: ‹Du musst jetzt stark sein, Finni – ich bin immer an deiner Seite!›»

Das war in der Nacht vor der Totgeburt. Und ­später auch in der Nacht, als ihr Alter acht ­Stunden später vom Dach segelte.

«Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die können wir dummen Menschen nicht erklären. Man muss sie einfach annehmen. Für mich war diese Gabe, Dinge vorauszusehen, stets ein Fluch. Aber irgendwo ist für alle immer ein Engel, der wacht», sagte Finni. Und dann fügte sie traurig hinzu: «Aber auch ein Engel, der uns das Dunkle der Zukunft ankündigt…»

Es war an einem Silvester, als die Familie wieder mal über die belegten Brote herging. Und sich dieses klebrige Asti-Gesöff reinschüttete.

Tante Finni hatte eine Schar Frauen um sich auf der Coach versammelt. Sie versprach viel Schönes fürs nächste Jahr.

Ich selber fühlte mich müde, fiebrig.

«Ab ins Bett!», befahl meine energische Mutter, «Du bekommst eine Grippe. Nicht dass du hier alle ansteckst …»

In der Nacht erschien mir ein schwarzer Engel. Er schaute mich mit seinen Sternenaugen an: «ICH BIN IMMER AN DEINER SEITE …»

Als meine Mutter mir morgens dann den Krug mit dem Lindenblütentee brachte, hatte sie rote Augen: «Tante Finni ist gestern Nacht plötzlich auf der Coach zusammengesackt. Der Krankenwagen kam sofort. Aber sie war schon nicht mehr auf ­dieser Welt…»

Auch Grossmutter Lydia tauchte auf. Und ­streichelte meinen Kopf: «Sie war eine gute Seele. Du darfst nicht traurig sein. Sie ist jetzt ein heller, leuchtender Engel…»

Ein heller Engel?

ERWACHSENE WAREN SO WAS VON DUMM.

WAS WUSSTEN DIE SCHON VON ENGELN MIT PECHSCHWARZEN FLÜGELN…?

Dienstag, 27. Dezember 2016