Dora schaute aus dem Fenster. Auf dem Bassin spritzten Regentropfen auf. Dora seufzte: «Also das hätten wir in Binningen auch haben können...»
«Mmmmh» – das war Karl. Er hockte auf dem Bett. Und quälte sich durch ein mittelschweres Sudoku. Dora seufzte jetzt drei Stufen lauter: «WAS WOLLEN WIR EIGENTLICH HIER, KARL?»
«Mmmmmmm».
«HÖR MIR ENDLICH ZU!»
Karl schaute etwas verwundert von seinem Zahlenproblem auf: «Aber das war doch deine Idee, Dora. Weg vom Stress. Kein Viergänger-Menü für undankbare Gäste...» Dora schaute wütend zu ihrem Mann: «Hörschonauf! Natürlich ist es für einmal ganz schön, dem hektischen Rummel den Rücken kehren zu dürfen... ich habe ja lange genug für alle den ‹Tscholi› gemacht... und nie wäre es jemand anderem in den Sinn gekommen, das Weihnachtsessen zu übernehmen...»
Karl hangelte sich stöhnend vom (viel zu niedrigen) Hotelbett hoch: «Ist doch nett hier, Liebes... ich jedenfalls geniesse die Ruhe und...»
«ES SCHIFFT SEIT VIER TAGEN!»
Der liebevolle Gatte seufzte. Er wusste, was nun kommen würde. Und es kam: «ICH WILL HEIM, KARL – ES BRINGT MICH UM, WENN ICH AM HEILIGEN ABEND DIE KLEINEN NICHT KNUDDELN KANN...» Die Kleinen waren ein Stall voller Enkel. Und Dora heulte noch einmal auf, als sie an Jens dachte, der sie auf dem Flughafen mit grossen Augen angeschaut hatte: «Und es gibt keine Würstchen mit Ketchup, Oma?»
Dora war stolz auf ihre Kochkunst. Sie hatte sich für die ganze Familie – das waren immerhin 14 Gäste – auf jeden Heiligen Abend hin ein anderes Viergänger-Menü einfallen lassen. Am Kindertisch aber wurden «Würstchen mit Ketchup» aufgetischt. Die Würstchen waren zur Tradition geworden. «Du könntest für uns Erwachsene problemlos auch einmal nur...», hatte ihre Schwiegertochter einen Anlauf genomen. Doras eisiger Blick fegte dieses Thema ein für allemal vom Tisch: «Ich werde an einem Weihnachtsfest meine Familie ganz bestimmt nicht mit Würstchen abspeisen, Jenny!»
Jenny war eh der psychische Stachel in Doras Leben. Sie hätte sich für ihren Sohn Ralf etwas «Passenderes» gewünscht – nicht diese Klugscheisserin, die neben ihrer Praxis für labile Kinderpsychen kaum je daheim war. Sie tischte ihrer Familie Fertiggekochtes vom Inder auf. ABER HALLO! Doras Enkel kannten fünf Nummern von diversen Pizza-Kurieren – aber sie wussten nicht, wie man einen gemischten Salat mischt. ISTDOCHWAHR!
Es gab immer wieder hitzige Debatten über die Erziehungsmethoden. Rolf, ihr Sohn, lächelte bei solchen Wortgefechten nur still vor sich hin – ähnlich wie sein Vater vor den Sudokus.
Als nun aber dieses Jahr Jenny mit dem Vorschlag kam: «Wir Erwachsene können doch auf Geschenke verzichten. Wir schicken das Geld der Heilsarmee!» KEINE GESCHENKE?
Da hatte Dora ihrer Schwiegertochter aber etwas gehustet. Diese Kuh, die aus einem reichen Stall kam, konnte so etwas wunderbar propagieren. Sie war im Vollfett aufgewachsen, während Dora eine ganze Kindheit lang am Heiligen Abend vergeblich auf eine Puppe gewartet hatte – eine Puppe, welche die Augen schliessen und schlafen konnte.
DIESER WUNSCH WAR NIE IN ERFÜLLUNG GEGANGEN!
Dora hatte ihre Schwiegertochter heulend angeschrien. «Als Psychotante solltest du so etwas kapieren... deshalb mache ich Geschenke, weil sie mir die Freude geben, die ich nie bekommen habe...»
Jenny hatte ein bisschen herumgehüstelt: «Also, das habe ich nicht gewusst, Dora... aber vielleicht könnten wir ja wirklich einmal nur Würstchen...»
Und da hatte Dora eiskalt erklärt: «Mach dir über meine Gefühlswelt keine Gedanken, Jenny. Wir sind dieses Fest eh ausser Programm – Karl und ich fliegen auf die Kanaren...» WEISS DER TEUFEL, WESHALB SIE AUF DIE KANAREN GEKOMMEN WAR. Und jetzt: REGEN. REGEN. REGEN.
Nach dem vierten Nasstag war auch der Reiz des Shopping-Vergnügens endgültig ausgelutscht.
Dora hatte zwar einen wunderbaren, indisch angehauchten Rock gesehen – exakt das Richtige für ihre Schwiegertochter. ABER EBEN: KEINE GESCHENKE. NUR HEILSARMEE!
«OK», riss Karl jetzt ungewohnt energisch seine Frau aus allen düstern Gedanken: «Dann versuche ich mal zu organisieren, Dora!»
Am Heiligen Abend sassen die beiden wieder im Flugzeug. Dora streichelte immer wieder die Hand ihres Gatten: «Du bist einfach der Beste... ich wäre in diesem Hotelzimmer draufgegangen: kein Baum... keine Kerzen... nur dieses Glühlampengefunkel... ach, Karl. Ich glaube, du hast es nicht immer einfach mit mir...»
«Das stimmt», seufzte Karl. Und schaute von seinem Sudoku auf: «Jennifer wird das Fest heute Abend organisieren...»
«Oh Gott», japste Dora. Karl grinste leise: «Du wirst dich zusammenreissen müssen!» Im Kopf von Dora explodierten tausend Gedanken: Es wird Fertiggekochtes vom Inder geben geben – ABER ZUMINDEST: DAHEIM! Dann tätschelte sie erneut die Hand ihres Alten: «Ist gut, Rolf!»
Als Dora schliesslich mit einem etwas schuldbewussten Blick die Wohnung der «Jungen» betrat, funkelte ihr als erstes eine Riesentanne entgegen. «Wir haben ihn selber schmücken dürfen», rief Jens begeistert aus der Küche, «komm her, Omi – ich zeige dir, wie man gemischten Salat richtig anmacht.» In einem Wassertopf schwammen Würstchen. Und Jenny grinste: «Keine Angst – für uns Erwachsene habe ich ein Huhn im Ofen. Aber nur das – neben deinen Viergängern kann ich eh nicht bestehen!»
«Ohhh Jenny» – Dora war schon immer nah am Wasser gebaut. Jetzt hing sie tropfend an der Schwiegertochter.
Dann schneuzte sie sich: «Ich weiss, dass wir keine Geschenke machen... aber es schüttete in Strömen... und das einzig Nette war die Hotelboutique…» – Dora überreichte Jenny noch immer schluchzend den indisch angehauchten Rock.
Jenny nahm ihre Schwiegermutter in die Arme: «Das Kleid ist ein Traum, Dora... im Übrigen hat es mir richtig Spass gemacht, auch einmal etwas fürs Fest organisieren zu dürfen... wir wechseln uns künftig einfach ab.» Dann lächelte sie. «Auch ich habe ein Geschenk. Aber nur für dich. Die andern Erwachsenen kommen spielend ohne aus...»
Jenny schob Dora ein längliches Paket zu. Dora schneuzte sich: «Soll ich es aufmachen?»
Sie öffnete hastig die Kartonschachtel – und dort lag sie: die Puppe mit den Schlafaugen!
Jetzt trompete Dora erst recht los. Ein Heulkrampf durchzuckelte sie. Jenny drückte sie ebenfalls schniefend wieder an sich.
Rolf riss die Küchentüre auf: «Ja, was ist denn hier los? Zwei heulende Weiber – und zehn aufgeplatzte Würstchen!»
«Danke Jenny», schnüffelte nun Dora, «danke. Das ist mein allerschönstes Weihnachtsfest!»
Mittlerweile erschien Karl unter der Küchentüre: «Habe eben die Wetterstation der Kanaren gecheckt, Dora. Die verkünden für morgen Sonnenschein. Und 25 Grad...»
«Scheiss auf die Kanaren!», schluchzte Dora noch einmal auf.
Dann flüsterte sie Jenny zu: «Du musst den aufgerissenen Teil der Würstchen ganz einfach nach unten legen. Dann merkt das keine Sau!»