Weihnachts-Karpfen

Lena schaute in die Badewanne.

Ein Karpfen schwamm im kalten Wasser herum. Er schickte Lena Küsschen zu.

KARPFEN SEHEN IMMER AUS, ALS WOLLTEN SIE DRAUFLOSKÜSSEN.

«Du armes Tier», dachte Lena, «bald schwimmst du in den Wolken…»

Sie rieb sich dennoch freudig die Hände: Dank des Karpfens hatte sie einen guten Fisch an Land gezogen! Kam so: Lena suchte im Internet nach dem Rezept für den gefüllten Weihnachtsfisch. Ihre Grossmutter Iga war Polin gewesen. Und hatte – auch als die Familie schon lange im Westen lebte – immer die «Wigilia» zubereitet: ein Fest­essen am Heiligen Abend, das so viele Gänge hatte, wie Jesus Apostel an den Tisch lud.

Höhepunkt war jeweils der gefüllte Karpfen ­gewesen.

Iga haute dem Fisch eigenhändig die Eisenstange über den Kopf. Und sie operierte die Galle so ­heraus, dass es jedem Spitzen-Chirurg Ehre gemacht hätte: «Ist Galle kaputt, ist Fisch auch kaputt!», hatte sie immer wieder doziert.

«Dling» – machte Lenas Computer. Und meldete auf der Seite «BRENNENDE HERZEN» einen neuen Interessen: Egon. Er war etwas über 50. Gerade richtig … und er arbeitete in der Versicherungsbranche. Guter Posten. Er schrieb nicht viel darüber. Aber Mercedes und Rolex auf der Foto waren Ausrufezeichen genug.

Sie hatten zwei Wochen hin und her gechattet:

«SUCHE KARPFENREZEPT FÜR WEIHNACHTEN!»

«Ok. Kann helfen… Mutter Köchin gewesen!»

«WILL IHN ABER GEFÜLLT!»

«Ohlala!»

Er kam persönlich vorbei. Lena war weg. Bald schon knetete er ihre Finger.

Und erzählte, dass er immer von einer Frau wie Lena geträumt habe – heiss. Und gut auf der Pfanne.

Lena verschwieg, dass sie mit Kochen nichts am Hut hatte. Sie erzählte vielmehr, dass sie als Bankfachfrau ein gutes Auskommen habe. Dass sie sparsam sei («ICH KAUFE MIR EINE WOHNUNG ÜBER DEM RHEIN») und dass sie ihr Geld nie auf die Bank bringe(«ICH WEISS WESHALB!»): «Nein. Ich bewahre alles im Haus auf!»

«UMHIMMELSWILLEN LENA!», japste Egon. «Jeden Tag gibt es irgendwo einen Raubüberfall… ich bin da aus der Branche…»

Ok. Das war er wohl.

Aber Lena konnte ein todsicheres Versteck zeigen. Sie schob grinsend eine der Marmor-Bodenplatten zur Seite: «Bitte. Mein Safe. Da kommt keiner drauf!»

«Trotzdem…», hüstelte Egon.

Dann wechselte er das Thema: «Karpfen sind nur wirklich gut, wenn sie ganz frisch sind. Am ­besten: Du lässt den Fisch bis zur Aus-Zeit in der Badewanne schwadern… ich übernehme den Rest! Hast du eine Eisenstange?»

Sie hatte, das dumme Kind!

«Armer Karpfen», dachte Lena wieder an diesem Morgen des Heiligen Abends.

Der Fisch schickte erneut Küsschen. Und übersah die Brechstange am Wannenrand.

Die Polizei wurde erst an Silvester gerufen. Eine Nachbarin hatte das unentwegt plätschernde Badewasser gehört. Und: «…die muss doch jetzt endlich sauber sein!», dachte sie.

Lena lag im Salon. Das Blut war gestockt. Neben der Leiche lag die Brechstange.

Der Marmorboden war aufgebrochen.

Und der Tisch festlich für zwei gedeckt. Mit ­Fischbesteck.

In der Badewanne drehte der Karpfen müde und abgemagert seine letzten Runden.

«Wenn du erzählen könntest», seufzte der ­Kommissar.

Konnte er aber nicht.

Er schickte ein letztes Küsschen.

Montag, 12. Dezember 2016