Vom Kuhauflauf in Appenzell und der Navi-Tante

Illustration: Rebekka Heeb

«ES IST 50. FÜÜÜÜÜNFZIG.»

Innocent fährt mit. Und bei. Er kommentiert jeden Meter: «Du bist zu schnell ...kein Wunder, dass es Bussen hagelt ... ACHTUNG – DER LKW KOMMT RAUS!»

Es müsste ein Spray –PFFFFT! – erfunden werden, der meckernde Beifahrer betäubt. Den Pfeffer haben wir ja – aber besser­wissende Beifahrer sind die wohl schlimmste Art der Vergewaltigung!

Wir brettern also in Richtung Appenzell. Und wir kurven auf der Rheinstrasse.

Zürich ist immer ein Problem. Für Basler speziell. Aber verkehrstechnisch wird der kleine Ort an der Limmat zur Plage. Wer ihn nach Osten hin umfahren will, steckt fest. Und zwar fest.

Ich höre stets von meinen jung gebliebenen Oldtimern das Gejammer: «In Zürich läuft mehr!»

Man gestatte ein trockenes Lachen: IN ZÜRICH LÄUFT GAR NICHTS MEHR. UND SCHON GAR NICHT UM ZÜRICH HERUM. DA STAUT SICH ALLES: SCHRITT-TEMPO ... STOPP ... SCHRITT-TEMPO ... STOPP ...

Da staut sich dann auch unsere miese Laune.

«SCHEISSZÜRICH!» – blinken die Warnlampen im Takt. Und deshalb wedelt Innocent mit der Schweizer Karte: «Wir umfahren das ganze Theater. Und nehmen die Rheinstrasse bis nach Winterthur. Dann über diese herrlichen Hügelchen vor St. Gallen ab ins Appenzell ...»

O.k. – diesen Vorschlag können wir schlucken. Auch wenn er von der Gegenseite kommt.

Ich fingere also am Navigator herum. Schon meldet sich Frau Kapitän: «Die Strecke wird berechnet ...»

«SCHALTE DIESE TANTE AUS!», bellt Innocent vom Nebensitz. «Ich habe hier eine Karte. Und ich war nicht umsonst Hauptmann in der Fliegerabwehr ...»

OHGOTTOHGOTTOHGOTT! – er trauert noch immer allen verpassten Abschüssen im Krieg nach.

«Sicherheitshalber lassen wir die Tante an», gebe ich den Navi-Tarif durch. Doch Innocent zeigt sich verstimmt: «WENN DU DIESE KUH NICHT SOFORT INS OFF SCHICKST, STEIGE ICH AUS!»

Gut.

Kuh im Off. Und Innocent angegurtet.

Schon kurz vor Frick streifen wir einen Friedhof, von dem ich weiss, dass er mit hundertprozentiger Sicherheit nicht zur Strasse nach Appenzell gehört.

«WO SIND WIR HIER EIGENTLICH?», erkundige ich mich beunruhigt.

Die Antwort kommt genervt: «WIE SOLL ICH DAS WISSEN? DAS IST EINE URALTE KARTE. UND HIER HAT SICH SEIT DEM ERSTEN WELTKRIEG ALLES VERÄNDERT ...»

«Es ist deine Karte», brülle ich jetzt. Und lasse die Tante wieder an.

«BITTE WENDEN», sagt die. Und Innocent sagt gar nichts mehr.

NICHT LANGE. Bald schon hagelts wieder Kommentare wie: «Jetzt hat es geblitzt ... hier ist nämlich 30!» oder: «... du hast schon wieder eine alte Frau vom Rollator gefegt.»

STRESS. STRESS. STRESS.

Ich liebe Autofahren. ABER ALLEINE. Oder mit Beifahrern wie mein Freund Hugo Mozzarella, der sein Schmusekissen auspackt. Seinen Kopf darauf bettet. Und seufzt: «Weck mich, wenn wir angekommen sind.»

So machen Beifahrer Freude ...

O.k. Die Navi-Frau hatte es auch nicht so ganz drauf. Jedenfalls liess sie uns in Appenzell durch Einbahnstrassen kurven, wo aufgeregte Menschen kopfschüttelnd winkten. Sie sperrten die Augen so gross auf wie ihre gefüllten Biberfladen. Dann griffen alle zu den Katastrophen-Handys und wollten das Filmchen von uns für die «Tagesschau» auf der Platte haben – plötzlich waren wir nämlich von einer riesigen Herde laut muhhh-muuuhender Kühe umgeben. Irgendwoher jodelte es in dieser nasalen Art, die den Menschen hier eigen ist. Es sind Töne, die auch Musikwissenschaftler immer gerne mit geschmolzenen Käsefäden assoziieren.

«IHR ZIEL BEFINDET SICH AM ENDE DER STRASSE», meinte die Navi-Tante.

Aber auch am Ende der Stras­­se waren nur Kühe ... Kühe ... Kühe. Und über uns eine Wolke von Fliegen ... Fliegen ... Fliegen. Denn die Appenzeller Kühe sind so streng in ihrem Aroma wie der Käse mit dem grossen Duft. Sein Rezept ist noch immer ein streng gehütetes Geheimnis – wie auch die Antwort auf die Frage: KOMMT NACH DER KUH ENDLICH UNSER HOTEL?

Bis jetzt ist nichts auszumachen. Nur Dutzende von gelb-rot-verpackten Appenzeller Männchen. Sie sind eher der schweigsame Typ. Und saugen stumm an einem versilberten Pfeifchen, das ihnen kopfabwärts aus dem faltig verbissenen Mund hängt. «SIE SIND ANGEKOMMEN», meldet Frau Navi nun fröhlich.

Ich ziehe die Handbremse. Denn die Sicht ist null und nichts. Die Fensterscheiben sind vollgespritzt mit all dem Braunen, die Kühe so von sich geben.

Wir versuchen, uns durch die Fladen durchzukämpfen, und kommen ziemlich havariert beim Hotel-Desk an. Zur Beruhigung schenkt man uns gleich ein etwas klebrig-­süssliches Gesöff, das sie nach ihrem Kanton nennen in winzige Gläschen: «HERZLICH WILLKOMNMEN! WIR FEIERN HEUTE KUHABZUG ...»

Als ob wir das nicht gemerkt hätten.

Auf diesem Platz, wo sie dann die Hand zur Abstimmung erheben, hat meine Hand die Gabel erhoben. Und dieselbe in eine Siedwurst gesteckt. DIE PRALLE SPRITZTE UM SICH, WIE DIE KUH AUF DER WEIDE. UND DIE FLIEGEN SUMMTEN AUCH SCHON WIEDER AN. ABER DIE SPEZIALITÄT SCHMECKTE GÖTTLICH.

Und als wir dann noch diesen prächtigen Bazar mit den 290 Gartenzwergsorten entdeckten, war der Tag gerettet (dreimal dürfen Sie raten, wer das Schneewittchen im Sarg gekauft hat ...).

Dienstag, 18. Oktober 2016