Höhenflug

Mit 10 Jahren wurde sie verführt.

In der Badewanne.

Onkel Max spielte «Die lustige Ente» mit ihr.

Er stieg zur Kleinen in den Fichtennadelschaum.

Und dann kam das mit der «lustigen Ente» – böser Onkel! Der Onkel wurde angezeigt. Mireille bekam Hilfe – «psychologischen Beistand» nannten sie das.

Doch das kleine Mädchen verkroch sich.

Blockte ab. Und wurde eine Einzelgängerin.

Sie hätte gerne einen Freund gehabt. Aber ohne Sex. Einfach jemanden zum Anlehnen. Zum Kuscheln. Einen menschlichen Teddybären (bis 20 nahm sie ihren Teddy mit ins Bett. Bei ihm war sie sicher, dass er nicht «lustige Ente» spielen wollte).

Sie sah gut aus. Und wurde oft angebaggert. Es blieb jedoch stets bei nur zwei, drei Treffen. Dann wollten die Männer mit Mireille in die Badewanne (im übertragenen Sinne).

Spätestens jetzt blockte Mireille ab: «Können wir nicht einfach Freunde sein?»

Nein. Konnten sie nicht. Und: «Geh mal zu einem Nervenklempner… du hast doch eine Schraube», knurrten die badefreudigen Burschen.

Mireille lotete den Weg mit Frauen aus. Da war keine Enten-Gefahr. Aber die Sehnsucht nach dem grossen Teddybären wurde nicht gestillt.

Immerhin konnten sie problemlos «Freundinnen bleiben». Frauen waren da weiter voran…

Mireille hörte sich die Erfahrungen der Freundinnen an. Sie schwärmten von «Höhenflügen». Und: «Es ist, als würdest du auf Wolken getragen», schwärmten die.

Mireille spürte eine stille Traurigkeit. Sie wäre auch gerne auf Wolken geschwebt.

In den Ferien liess sie sich am Sandstrand von der Sonne streicheln. WAR ABER AUCH KEIN TEDDY-­ERSATZ.

Und wie sie als 40-Jährige dann erstmals von den Rimini-Papagalli angemacht wurde, beschloss sie, künftig auf die Adria-Sonne zu verzichten. Ihr Ziel war jetzt Wandern. Sie buchte in Interlaken.

Nach der Tagestour setzte sie sich auf die Terrasse des Hotels Viktoria. Löffelte ein Zitronensorbet. Und schaute den Gleitschirmpiloten zu, wie sie mit ihren Flugpassagieren auf die grosse Wiese segelten. EINER GEFIEL IHR BESONDERS.

Er hatte rehbraunes Haar. Und blaue Augen. Dazu war er stämmig gebaut. DER ABSOLUTE TEDDY-TYP!

Als er den Gleitschirm zusammenfaltete, schlenderte sie zu ihm. «Ein einzigartiges Erlebnis», schwärmte der leicht bauchige Engländer, der mit dem Piloten vom Berg gehüpft war. «Thank you, Fritz.» FRITZ HIESS DER TRAUMMANN ALSO. IHR TEDDY HATTE AUCH «FRITZI» GEHEISSEN.

«Ich würde gerne auch einmal…», lächelte Mireille Fritz an.

Der lächelte zurück: «Es wird mir ein Vergnügen sein, schöne Frau – haben Sie schon…?»

Nein. Nie.

Sie lud Fritz zum Zitronensorbet auf die «Viktoria»-­Terrasse ein. «Bis morgen», strahlte Fritz. Der italienische Kellner zwinkerte.

BLÖDMANN – dachte Mireille.

Es kam das spannende Vorspiel mit all den Seilen, Spangen und Fesseln.

Sie spürte Fritz satt an ihrem Rücken. Dann hoben sie ab.

«ICH SCHWEBE AUF WOLKEN», jauchzte sie.

Es war unbeschreiblich.

Sie drehte sich wild zu ihm um: «Oh, Fritzi…»

«Bau keinen Mist!», brüllte der. Denn die Seile ­verhedderten sich.

«ES IST EINFACH IRRE SCHÖN…», jubilierte sie. Und drehte sich wieder.

«MIREILLE!» – schrie Fritz.

Dann war sie im Himmel.

Die Medien berichteten ausführlich über den Absturz – aber auch nur, weil an jenem Wochenende sonst nichts in die Luft gegangen war.

Der Kellner wurde im Blick zitiert. «Sie war eine Signora caldissima – eine ganz heisse Frau!»

BLÖDMANN!

Montag, 3. Oktober 2016