Vom Japaner, der vom Himmel fiel…

Illustration: Rebekka Heeb

Als ich den Sommer in Adelboden verbrachte… – also das tönt jetzt wirklich chic. Ich meine, die Queen verbringt den Sommer in Balmoral, Clooney am Gardasee. Und unsereins beim Vogellysy, so unterschiedlich schreibt die Welt Geschichten – zurück nach Adelboden!

Als ich den Sommer in Adelboden verbrachte, zwischen Pierens Kühen und Oeschters Hühnern, da wurde mein Tagesnichtstun immer heftig gestört. BIKERS JAGTEN WIE WILD GEWORDENE HUMMELN ÜBER DIE WEIDEN. Gruppen, auf Wanderstöcke gestützt, stocherten an mir vorbei. UND DANN HÜPFTE MIR TATSÄCHLICH AUCH EIN MANN VOM HIMMEL. ER MÄHTE MIT SEINEM GLEITSCHIRM ALL DIESE ROSEN AB, DIE MEINE MUTTER SELIG NOCH GEPFLANZT HATTE. UND DIE JETZT NUR NOCH GEKÖPFTE DORNENSTÄNGEL SIND.

Natürlich jagte ich tobend zu dem fliegenden Männchen. Und es zeigte sich, dass er japanischen Geblüts war: wunderbares, dichtes Haar. Doch den Rest kannst du vergessen. Das Männchen schnallte an allen Ecken und Enden irgendwelche Gurten los. Als es mich kommen sah, verneigte es sich siebenmal. Stammelte Unverständliches. Und ich kapierte Bahnhof.

EINES STAND ALLERDINGS FEST: DIESER SELTSAME JAPANISCHE VOGEL HATTE SICH VERFLOGEN. Ich spulte auf Englisch um: «Are you kaputt?» Und er verneigte sich wieder. Dann schritt er durch die Weide mit einem riesigen Stoffpacken davon. Zurück blieben die Dornen. Und ein rosiges Blättermeer, das aussah, als hätte der Rasen geweint.

Wenn ich mich aufraffe, um mir im Dorf ein kleines Cremeschnittchen oder ein Stück von Haueters Trüffeltorte reinzuzwitschern, holt mich der Zeitgeist ein. KLARER AUSGEDRÜCKT: ER ÜBERHOLT MICH. Und dies auf Velos, die lautlos vorbeizischen. Oder auf stummen Trottinetts, die man jetzt auf jedem Berggipfel mieten und dann die Wanderwege darauf runterbrettern kann.

Die Trottinettler tragen Sturzhelme. Der Spaziergänger nicht. Und ich kann euch versichern, es ist nicht nett, unter ein Trottinett zu kommen. Wenn sich der brutal Gestürzte dann an einem der vielen Baumstümpfe hochhangelt, kaum Luft hat und dennoch mit letzter Kraft dem Helm «DU RIESENHIRNI!» nachbrüllt, jagt der einhändig auf seinem Trottinett weiter. Mit der andern Hand zeigt er den Stinkefinger.

«Wir müssen uns etwas einfallen lassen, dass die Leute auch im Sommer kommen», hat mir mein Nachbar Urs erklärt. Er ist zufällig auch Direktor des Tourismusbüros. Und sehr stolz auf 300 Kilometer Wanderwege. «Die Leute wollen sich bewegen … sie wollen Sport! Und nicht nur wenns schneit…»

Schneit?

In dieser Höhe ist der Schnee schon lange einem tristen Regen gewichen. Der Himmel weint nur noch. Und wenn er all diese Sportverrückten sieht, weiss man auch, weshalb.

«Wir haben 300 Kilometer Wander­strässchen», erzählt mir auch Thomas, der jeden Tag dem Tourismus die Steine aus den Wegen räumt. JA. WANDERN. DAS IST OKAY. Aber ­müssen diese Wege nun mit Trottinetts, breit­gummigen Velos, verrückten Bikern und herum­jagenden Stockläufern überlaufen sein?

Die einst idyllisch stille Engstligenalp ist zum Globipark geworden. Geplagte Eltern verfrachten ihre Brut in die alte Gondel – und ab gehts zu Füssen des Wildstrubels, wo die Kleinen stark duftende Ziegen drücken und eine Kunststoffkuh melken dürfen.

«Es wäre nicht schlecht, wenn du deinen Ranzen auch etwas trimmen würdest», sagt Anita. Früher hat sie mir jeden dritten Tag aus Alpenbutter, weissem Mehl und Frischeiern Bricelets auf dem Brezeleisen gebacken.

Heute sattelt sie ihr Velo. Und verteilt gepfefferte Ratschläge: «Es gibt diese Velos auch mit Elektrohilfen – da musst du dann nicht so stark in die Pedale treten, wenns ‹bergaufi› geht. Es ist wunderbar…» Schon surrt sie wie von 100 unsichtbaren Händen gestossen den steilen Weg ins Dorf hinauf. Und ich keuche hinterher – Zunge raus. Und Coramine rein.

Weshalb trainiert hier eigentlich jeder auf das nächste Olympia? Die ganze Welt ist ein Sportwettbewerb geworden. EIN RUCKSACKDRAMA! Und das kann man jetzt auch zynisch verstehen.

«Jetzt krieg dich wieder ein», wettert mein lieber Freund Innocent. Er hat sich auf seinen 81. Geburtstag federnde Gehstöcke geleistet. Und walkt nun so zu seinem Bier. Im Rucksack schleppt er eine Trockenwurst (Hirsch) und eine Flasche mit mineralhaltigem Wasser mit: «Im Alter muss man immer wieder spülen … es ist wichtig, dass wir viel trinken!» Erst beim Ausspülen der Flaschen merke ich, dass das Wasser verdächtig nach Grappa schmeckt.

Wenn ich mir die alten Filme, die mein geliebter Vater noch auf Acht-Millimeter-Zelluloid gespult hat, anschaue, sehe ich, wie wir anno 1958 gewandert sind: die Omama mit einem toten Fuchs um den Hals, einem Tailleur von Burberry und einem Paar Schuhe, die auch an einer Theaterpremiere durchgegangen wären.

Um alles hat stets ein Hauch von Maiglöckchenparfum geweht – selbst im September!

HEUTE?

Nackte, tätowierte Schinken, die rötlich verbrannt aus immer unsauberen Kurzhosen glühen.

Das Deo ist schon längst im All und macht nun einer Welle beizender Schweisswolken Platz. UND DAS ALLERSCHLIMMSTE: AN MEINEM STAMMTISCHCHEN IM CAFE SIND DREI VELOS ANGELEHNT. UND DIE CREMESCHNITTEN WEG!

Frustriert wandere ich durch den ganzen Sportzirkus in meinen Garten zurück.

Und warte gespannt darauf, was mir der Himmel wieder Sportliches vom Himmel schickt…

Dienstag, 20. September 2016