Das Blau des Enzians liess ihn erschaudern.
Die Farbe (intensiv und doch so kalt wie ein Himmel über Sibirien) faszinierte den Buben vom ersten Augenblick an.
Sein Vater hatte ihn auf den Berg mitgenommen. Er war damals zehn. Und er hasste Bergtouren. Der Junge war der «Stubenhocker-Typ».
Heinz-Hugo lebte in seinem Zimmerchen mit Plüschtieren.
Oft träumte der Bub davon, eine Prinzessin zu sein – eines dieser elfenzarten Wesen, von denen ihm seine Grossmutter immer wieder Geschichten erzählte. Krönchen. Blondhaar. Und Glasschuhe – DAS WAR DIE WELT VON HEINZ-HUGO.
Sagen wirs mal so: Der Bub küsste schon Frösche, bevor seine Milchzähne wackelten. Und bereits früh musste er mit der Enttäuschung leben, dass die glibberigen Viecher keinen Prinzen hervorbrachten.
KLOBIGE BERGSCHUHE HATTEN HIER NUN WIRKLICH NICHTS VERLOREN!
Auch nicht der Wandergang mit blutgierigen Bremsen, ausgedörrten Kuhfladen und Mücken, die den Buben saugbereit umsurrten.
ER HASSTE FLIEGEN!
ER HASSTE KUHFLADEN.
ER HASSTE MÜCKEN !
ER HASSTE AUCH SEINEN VATER.
Dieser haderte. Und nahm die Allüren ziemlich krumm.
Die Mutter tröstete den Alten. «Es wird schon werden, Werner – gib ihm Zeit!»
Doch der Vater war ein ungeduldiger Mensch. Er wollte, dass sich das sanfte Prinzesschen in einen wütenden Ringer verwandle.
Und weil er keinen Frosch küssen wollte, nahm er das Schicksal persönlich in die Hand. Er trainierte den Buben auf den «rechten Weg» hin.
So musste der arme Junge schon bald Geröllhalden rauf und Berghügel runter hecheln – doch eben bei dieser Trimmtour stiessen die beiden auf einen Enzian.
Schon von Weitem sah Heinz-Hugo das saftige, dunkle Blau, das aus dem hellen Grüngras funkelte. Er ging vor der Blume in die Knie. Und schaute fragend zu seinem Vater.
«Ein Enzian», sagte der.
«Es hat die Farbe dieser Prinzenaugen, die mich von euch erlösen werden...», deklamierte der Bub. (Wie gesagt: eine typische Märchentucke.)
«Dein Arsch wird bald auch so blau sein, wenn du nicht mit diesem Mist aufhörst...», tobte der Vater. Es war die Zeit, in der Eltern ihre Kinder bei Bedarf noch züchtigen durften.
Heinz-Hugo pflückte sich das Blümchen. Und redete bis zu Hause kein Wort mehr.
Im Garten holte er Moos. Legte ein Schnapsglas damit aus. Befeuchtete das Grün. Und bettete die blaue Blume darauf.
«DU DEPP – DIE BLUME IST GESCHÜTZT...», polterte der Vater.
Später polterte er auch bei seiner Ehefrau: «Der Bub ist schräg. Beim Zweiten wäre so etwas nicht passiert...»
Der zweite war drei Tage nach der Geburt gestorben.
Heinz-Hugo sprach oft mit ihm. Er hatte sich einen kleinen Bruder gewünscht. Die Gross- mutter aber sagte, er sei nun im Himmel. Mit einem weissen, langen Kleid – und er würde ihn beschützen.
Heinz-Hugo liebte seinen schützenden Bruder. Er beneidete ihn jedoch ein bisschen um das lange, weisse Kleid.
Ein halbes Jahrhundert später, als Heinz-Hugo am Sterbebett seines Vaters stand, schaute ihn dieser lange an: «Ich habe vieles falsch gemacht...»
Er griff zu einem Buch. Und holte etwas Ver- ruzeltes, Verwelktes heraus: «Ich habe den Enzian damals gepresst... weiss nicht warum... irgendwie war mir der Moment wichtig!»
Dann weinte der Alte.
Und sein Sohn drückte ihm die kalte Hand.