Schwarzwäldertorte

«Das war sehr lieb» – Hanny drückte dem Koch des Altersheims «Abendfrieden» einen Schein in die Hand.

Er wehrte ab: «… ist nix nötig, Frau Hanny.»

Sie tätschelte seinen Arm: «Doch – Ahmed. Doch. Du weisst gar nicht, welche Freude mir das gemacht hat …»

Ahmed steckte den Schein etwas geniert ein. Dann nickte er Hanny anerkennend zu: «Ist gutes Torte, Frau Hanny… du sein gutes Frau!»

Hanny lächelte.

Sie musste an Gustav denken. Er war ähnlich gestrickt gewesen. Wenn sie ihm ein gutes Essen vorsetzte, war seine miese Laune, die er aus dem Betrieb nach Hause mitgebracht hatte, verflogen.

Damals – sie waren kaum zwei Jahre verheiratet und ihr erstes Kind unterwegs gewesen – war er wochenlang bedrückt in der Wohnung herum­geschlichen. Er hatte nicht mit der Sprache ­herausrücken wollen, bis sie über einen seiner Freunde erfuhr, dass Gustav sich um seinen Job sorgte: Die Firma müsse Kündigungen ­aussprechen…

An jenem Tag hatte ihm Hanny ihre erste «Schwarzwälder» gebacken. Nach Hackbraten und Kartoffelstock (Gustavs Lieblingsessen) brachte sie das Prachtstück mit den funkelnden, roten Kirschen und dem schneeweissen ­Rahmberg, der mit Schokoladensplitter zugedeckt war, auf den Tisch: «So. Schluss mit Sorgen, Guschti – irgendwie werden wir durchkommen. Ich bin ja auch noch da – und kann für andere Leute nähen…»

Ein Jahr lang war er arbeitslos. Sie flickte ­zerschlissene Hosen und ausrangierte Blusen. Und sie kamen bestens über die Runden.

Immer am letzten Sonntag des Monats balancierte sie ihre «Schwarzwälder» auf den Esstisch – auch später, als Gustav schon lange Vorarbeiter war.

Die Schwarzwäldertorte wurde ihr Paradestück. Keine Feier ohne «Hannys berühmten Kuchen».

An Verlobungen, Geburtstagen, ja gar zum ­«Leichenmahl» von Tante Antoinette schleppte Hanny ihr «Chef d’Œuvre» an. Wenn die Leute dann ­sagten: «Niemand macht eine bessere Schwarzwälder als Hanny», war sie glücklich. Und Gustav kniff ihr stolz in den Arm: «DU BIST DIE BESTE…»

Sie hatte dann auch an Gustavs Beerdigung die Torte gebacken – das liess sie sich nicht nehmen. Das Backen des Kuchens tröstete sie über den ­herben Verlust hinweg…

Nun war Hanny 94. Und hatte alle überlebt.

Seit acht Jahren wohnte sie im «Altersfrieden».

Hanny war zufrieden – «dankbar», wie sie den Enkeln und Urenkeln versicherte, die sich ­sporadisch nach ihr erkundigten.

Als «Elvira» ihr dann eine Hochzeitseinladung schickte – ES WAR DIE ZWEITE HOCHZEIT, ABER ELVIRA WAR IMMER IHR LIEBLING ­GEWESEN –, beschloss Hanny, die Gäste der Feier mit ihrer traditionellen «Schwarzwälder» zu ­überraschen.

Als sie jedoch die «Schwarzwälder» für den ­grossen Moment aufs Buffet stellen liess, stahl ihr dort eine fünfstöckige Hochzeitstorte die grosse Show…

Das Paar strahlte hinter Trockeneisschwaden und Funken speiendem Feuerwerk – Hannys Torte, die während der Zugfahrt in der heissen Augustsonne etwas gelitten und ihre Form ­verloren hatte, nahm sich aus wie ein krummer Zwerg neben der üppigen Zuckergusspracht.

Niemand nahm sich auch nur einen winzigen Schnipsel von der «Schwarzwälder».

Hanny liess sich ein grosses Stück davon in Stanniol einpacken. Und brachte es Ahmed in den «Altersfrieden».

Der kostete schmatzend:

«SO GUTES TORTE … so gutes Frau!»

Drei Tage später war Hanny nicht mehr auf dieser Welt.

Allerdings auch niemand mehr, den sie mit einer Schwarzwäldertorte über den Verlust hätte ­wegtrösten müssen.

Montag, 22. August 2016