Gestern fuhren am Hafen die Bagger vor.
Es war, als würden sie in den Krieg ziehen.
Eine der Maschinen hatte eine Riesenkugel angehängt – die Kugel baumelte wie ein gigantischer Nasentropf am Kranarm hin und her.
Schliesslich schwenkte die Maschine aus. Die Kugel krachte an die Bar Centrale. Ein Teil der weiss-rosigen Mauer brach zusammen.
NACH DREI STUNDEN WAR DIE GESCHICHTE DES ÄLTESTEN TREFFPUNKTS DER INSEL NUR NOCH EIN TRÜMMERHAUFEN.
Die Bar Centrale war vor 45 Jahren der erste Ort, den ich auf «Monte Argentario» aufsuchte.
Ich brauchte eine Putzfrau. Und die Fischer schickten mich zum rosafarbenen Haus: «Das ist die Inselzentrale, Signore.»
Vor der Bar standen leicht angerostete Bistro-Tischchen. Die Alten des Ortes hockten daran. Spielten Karten. Und pafften würzige Toscani.
Das Innere des Hauses zeigte die Allüre eines französischen Puffs: roter Plüsch, blitzblank geputzte Kristalllüster, deren glasige Tropfen vom Meereswind stets klirrend ins Zittern kamen.
An der Ecke stand ein leicht erhöhtes Kassiererinnen-Pult. Dort sass Rosa. Sie hatte ein Monokel und alles im Blick.
Rosa war Inselgeschichte. Als junges Mädchen – so ging das «on dit» – habe sie den Ort verlassen. Sie sei eine der schönsten Töchter gewesen. Habe aber die Nase stets etwas zu hoch gestreckt – na ja: Flausen eben.
Eines Tages brannte sie mit einem französischen Touristen durch. Sie schickte ihrem Vater, dem Gemeindeschreiber von Porto Santo Stefano, eine Postkarte: «Das wars! – Nie wieder die Insel!»
Und als sie nach einem Jahr dann trotzdem zurückkehrte, weil der elegante Pariser genug von ihr hatte (na ja, so ähnlich, wie wenn man jeden Tag ein Kotlett vertilgt und auch das Nagen am Knochen seinen Reiz verliert), da rieben sich die Frauen des Orts schadenfroh die Hände: «GOTT IST GERECHT! Hochmut kommt vor dem Fall.»
Rosa kümmerte sich nicht um die Häme. Und nicht ums Gerede. Sie war noch immer eine junge, attraktive Frau. Allerdings trug sie jetzt Pariser Kleider. In ihrem Chic passte sie in das Hafenstädtchen wie ein Furz in die stille Andacht.
Rosa holte sich eine Bankhypothek auf das rosige Haus am Hafen. Und lebte dort ihren Pariser Traum weiter.
Statt Grappa schenkte sie «Marc de Bourgogne» aus. Statt Campari servierte sie «Pastis» zum Apéro.
Weil die Männer das nicht mochten, war Ebbe in der Kasse. Und Rosa polierte den miesen Umsatz mit einer «Fumeur»-Ecke auf. Hier verkaufte sie Zigaretten und Caramelle, die sie aber eisern «Bonbons» nannte.
Eines Tages fuhren die Handwerker von Grosseto vor. Sie brachten im Innern der Bar kleine Nischen an, sodass jeder dachte: Jetzt spinnt Rosa total. Sie baut ein Pariser Puff.
Die plüschigen Kabäuschen aber wurden zu nummerierten Kabinen mit einer hölzernen Sitzbank. An den Tapisserien hing jeweils ein eleganter Spiegel – und ein Telefon. Nur wenige der Insulaner hatten damals so ein Teufelsgerät zu Hause – und falls doch, dann funktionierte die Sache eh nie, weil der Sturmwind die Telefonleitungen auf den hohen Masten durchwirbelte wie Mamma Maria die gekochten Spaghetti.
So hat mir damals Rosa mit ihrer Bar Centrale nicht nur eine Putzfrau besorgt – dank ihr konnte ich auch meine Berichte an die Zeitungen durchgeben. Ich brachte die Manuskripte in die Bar. Und bestellte ein Gespräch nach Basel.
Rosa zeigte hoheitsvoll auf einen freien Tisch. Liess einen «petit café» bringen (sie weigerte sich standhaft, das Wort «Espresso» in den Mund zu nehmen). Und verlangte an der Zentrale von Grosseto Basel.
Nach 20 Minuten bellte sie dann von ihrem hölzernen Thron: «BASILEA – CABINA 3.»
Die meisten Insulaner kamen nun zu Rosa, um mit ihren Tanten in Rom oder dem Geliebten auf Sardinien zu telefonieren.
Von ihrem Pult aus dirigierte Rosa Ankunft und Abschluss der Gespräche wie ein Stellwerkchef seine Züge. Nie hat sie einer lächeln gesehen. Immer nach dem neusten Pariser Chic gekleidet, sass sie auch als alte Dame noch mit roten Puderbacken auf ihrem hohen Stuhl. Und stets wehte ein Hauch von «Muguets» um sie – ein Maiglöckchen-Parfum, das sie sich aus Frankreich schicken liess.
Mit ihrer Kundschaft sprach Rosa nur das Nötigste. Entsprechend war sie nicht unbedingt der Liebling des Ortes.
Es kam, wie es kommen musste: Die Zeiten wurden noch mieser, das Geld noch rarer – und eines Tages erklärte die Behörde die Bar Centrale im «fallimento». Oder anders gesagt: Der Kuckuck klebte an der Türe.
Kurz bevor die Bar für immer ihre Rollläden schloss, hat Rosa erstmals ein privates Wort an mich gerichtet: «Sie kennen doch so viele Leute, Signore … ich suche eine Wohnung in Paris!»
Und dann haben ihre Augen für einen kurzen Moment geleuchtet: «Ich werde diese Insel verlassen. Endlich. Ich bin jetzt 80 Jahre alt. Aber mein ganzes Leben ist stets Paris gewesen.»
Ernesto, der Cornetto-Bäcker des Ortes, sollte Rosa an jenem Juli-Tag nach Genua zum Bahnhof bringen. Sie hatte sich bei Antonio zwei Lederkoffer reparieren lassen. Und Anna, die Schneiderin am Hafen, hatte vier Tage lang Rosas elegante Garderobe ausgebessert.
Es war auch das erste und letzte Mal, dass Rosa das kleine Caffè Molino beim Mercato betrat. Triumphierend zeigte sie ihr Bahnbillett herum: «Ecco – partirò per sempre. Das wars, und ciao!»
Ernesto wartete lange vor den geschlossenen Läden der Bar Centrale. Schliesslich klopfte er an die Türe: «Signorina Rosa – dobbiamo partire.»
Es blieb still. Und das alte, rosa Haus hatte plötzlich etwas Gespenstisches.
Die Leute riefen Nando, den Dorfpolizisten.
Dieser fand Rosa im Salon.
Es duftete süss nach Maiglöckchen. Die Tote lag in ihrem eleganten Sommerkleid auf dem Divan – abgereist.
Diesmal unwiderruflich für immer.