Das Baby

Das Flugzeug aus Hamburg hatte Verspätung.

«Zwei Stunden!», stöhnte Liz.

Sie setzte sich auf einen der raren Sessel. Dann schüttelte sie den Kopf: «Ist ja auch eine ­Schnapsidee …»

Es sollte ihr erstes Treffen werden. Live. Bis anhin hatten sie nur Skype-Kontakt.

Liz hatte sich von Kurt getrennt – nach dem ­verflixten siebten Jahr.

Er wollte Kinder. S I E NICHT.

Sie konnte mit diesen schreienden Gören einfach nichts anfangen. Stets standen sie im Mittelpunkt, erbrüllten sich ihre Aufmerksamkeit – NICHTS FÜR LIZ!

SIE BRAUCHTE EINE WELT, DIE SICH NACH I H R DREHTE.

Kurt rief täglich an. Es tönte grotesk – aber die Trennung hatte sie einander nähergebracht. Manchmal führte er sie auch zum Essen aus. Sie redeten über Gott und die Welt – nur das Thema «Kinder» blieb ein Tabu.

Auf einem dieser «WER MAG DICH?»-Portale hatte sie dann Holger kennengelernt.

Zuerst mailten sie Belangloses hin und her. Dann wurde es tiefer.

«BIN 34 … WILL KEINE KINDER …», gab sie schon mal die Richtlinien durch.

Er: «47. HABE SCHON DREI. UND BLECHE ALIMENTE …»

Aha. Geschieden! Tant mieux …, dachte Liz. Und rief ihn auf Skype an.

Er war nicht gerade ein Beau. Aber seine strahlenden, stahlblauen Augen faszinierten sie.

«Can you take Baby …?», eine schwarze Frau riss Liz aus allen Gedanken.

Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte die junge Mutter ihr ein Bündel in die Hände. Zwei dunkle Augen schauten Liz fragend an.

«JA HALLO! Das glaube ich jetzt aber nicht …», redete sie auf das Baby in ihren Armen ein. Dieses zog einen Flunsch. Und quäkte drauflos: «Wähääääää…»

«Na, na…»

Liz wiegte die Kleine etwas unsicher hin und her: «Na, na...»

«Wääääähhhhh!»

«Wie heisst du denn?» – Sie drückte dem dunklen Baby einen Kuss auf die dicken Backen.

Es war wirklich allerliebst. Ein bisschen laut –aber diese zarte Haut! Und dieser wunderbare Geruch – fast wie frische Milch …

«Wääähhh…»

«Ja, ja, ja – die Mammi kommt bald …»

Plötzlich wurde Liz blass: WAS, WENN DIE ­MUTTER NIE MEHR AUFTAUCHEN WÜRDE? …JA HIMMEL, WAS SOLLTE SIE NUR TUN?

«Wääääähhhhh.»

Liz drückte die Kleine fest an sich. Ein wunderbares, warmes Gefühl durchströmte sie – etwas, das sie bis anhin noch nie empfunden hatte. Dann spürte sie etwas Warmes auf ihrer weissen ­Armani-Bluse.

Jetzt schmeckte das Baby auch nicht mehr milchig süss …

«Thank you so much...», die schwarze Frau war wieder da. Sie schaute entsetzt auf die gelblichen Flecken auf dem Stoff: «Oh dear …», rief sie. Und pflückte Liz das feuchte Paket aus dem Arm.

Dann zupfte sie ein regenbogenfarbiges Seidenband aus ihrer Basttasche. Und band es Liz um das Handgelenk. Und versuchte es auf Deutsch: «Bringt Glück … bringt Baby … du gutes Mutter!»

Schon war sie im Menschengewimmel ­verschwunden.

Liz fühlte synchron Trauer und Seligkeit.

Als Holger zwei Stunden später ihre Bluse sah, runzelte er irritiert seine Stirn. Noch mehr ­runzelte er, als Liz ihm erklärte: «… alles ein ­Irrtum. Sorry. Und tschüssi.»

Im Taxi zückte sie ihr Handy: «Kurt, bist du heute Abend frei? ICH GLAUBE WIR SOLLTEN REDEN …»

«Ein schönes Armband», lächelte die Taxifahrerin, als Liz ihr das Geld hinstreckte.

«Haben Sie Kinder?», lächelte Liz zurück.

Montag, 25. Juli 2016