Von den Heuschrecken in Rom und dem Glück

Illustration: Rebekka Heeb

Badrig sass auf der Strasse. Und verkaufte Heuschrecken.

So habe ich den Jungen aus Manila kennengelernt.

Ich stresste durch Rom. Und suchte nach einer Tischdekoration. GRUND: Mein Neffe Stefan heiratete. Innocent hatte ihm gross­spurig versprochen: «Wir bauen dir das Fest auf der Insel – grosse Kiste. Für einmal soll es richtig krachen. Lade all deine Freunde und Verwandten ein! Ich lass mich nicht lumpen.»

Dann hat er mir ein Budget von Fr. 6.15 pro Kopf zugesprochen. Und sich aus der Organisation zurückgezogen.

WAS BLIEB MIR ANDERES ÜBRIG, ALS EINE BANK AUSZURAUBEN!

«Mein Gott – so ein Tellerchen Spaghetti kostet doch nicht die Welt!», konterte Innocent, als ich mich auf den Boden warf und auf den Rasen einhämmerte.

Immerhin waren über 60 Gäste angesagt. Und mit einem Kopfgeld von 6.15 Franken konnte ich gerade mal ein Stück Mozzarella und Sirup servieren.

Ich jaulte, schluchzte, umklammerte Innocents Hosenbeine. «Okay, okay», winkte er müde ab, «ich erhöhe – aber nur auf Fr. 6.20. Die sollen nicht meinen, wir hätten es auf den Haufen.»

So fuhr ich also von der Insel in die Ewige Stadt, um nach einer billigen Tischdeko Ausschau zu halten.

UND DA WÄREN WIR WIEDER BEI BADRIG. UND SEINEN HEUSCHRECKEN.

Der dickliche, dunkelhäutige Junge bastelte aus Palmenblättern die mannigfaltigsten Grashüpfer. Er tat dies höchst geschickt. Seine Finger wuselten durch die verschiedenen vorgeschnittenen Palmenstreifen. Und flochten die Halme ­ineinander. Er werkelte mit akribischer Geduld.

Badrig hängte den Grashüpfer an ein zartes Ästchen – EINFACH. ABER EINFACH SCHÖN!

Die Passanten und Touristen jagten achtlos an diesem kleinen Handwerkswunder vorbei – der arme Kerl war einer mehr, der da am Boden irgendwie für irgendetwas bettelte. AUCH DIE PRIESTER SPENDETEN KEINEN SEGEN. GESCHWEIGE DENN ALMOSEN.

Ich ging also vor Badrig in die Knie. Begut­achtete die fünf Heuschrecken, die er feilbot. Und nickte dem jungen Mann zu: «Quanto… wie viel… how much?»

Er schaute lächelnd auf. Dann ­wieder auf seine Arbeit. Und machte unbeirrt weiter.

Na ja – er liess mich zappeln wie seine Heuschrecken am Ast. Später hat er mir erklärt, dass dies ein Trick der philippinischen ­Stras­senhändler sei. Die Wartezeit lasse die Preise in die Höhe schnellen. GUT. NETT GEMEINT. FUNKTIONIERT ABER NICHT BEI MIR. DESHALB: «50 Cents!»

Ein müdes Lächeln. Er arbeitete kommentarlos weiter.

Ich erhöhte auf 60. Dann auf 70. Schliesslich: «80 Cents – ultima offerta.»

«5 Dollars!», sagte er nun.

WAS HAT INNOCENT MIR ­EINGEPAUKT: WIR HABEN ES NICHT AUF DEN HAUFEN!

Andrerseits: Ich stellte mir die baumelnden Heuschrecken auf den weiss gedeckten Tischen vor. Ich würde Feldgräser dazustecken. Mohn. Ein paar Olivenzweige. Und …

«Ich brauche 70 Stück – und bezahle für alle 60 Euro …»

Dann drückte ich Tränen in die Augen: «Mio amico… molto schottisch.» Ich rollte die Augen: «Avaro… geizig… non dare soldi per me, capito?»

Sein einziger Kommentar: «350 Dollar.»

Badrig stand auf. Klopfte den Dreck von seiner Hose. Und nahm mich ins Visier: «70 Heuschrecken bedeutet eine Nachtschicht. Saya, meine Frau muss mitarbeiten.»

HIMMEL – DIESES KIND HATTE EINE FRAU!

«Sie ist sensibel. Nachtarbeit tut ihr nicht gut. Da sind fünf Dollar für dieses wunderschöne Heu­schrecken­tier geschenkt.»

Ich weiss nicht, wer von euch je mit einem philippinischen Stras­senhändler gefeilscht hat. Die haben Zeit. Du aber nicht. Wir einigten uns schliesslich auf 250 Euro. Und er wollte einen kräftigen Vorschuss : «Weiss ich denn, ob du mich nicht anschmierst? Gibst hier den grossen Macker und morgen komme ich mit 70 Heuschrecken, doch keiner ist da. Ich habe umsonst mit meiner Frau eine Nacht durchgearbeitet und», er grinste, «wir haben Schöneres zu tun!»

ICH KANN ES NICHT GLAUBEN! DA FLIEHT ER VON MANILA NACH ROM UND DENKT DOCH IMMER NUR AN DAS EINE…

Am andern Tag ist die Ware da: 70 Heuschrecken – eine prächtiger als die andere. Zwei schenkt er mir dazu: «Für deinen ­geizigen Freund und dich!»

Er erzählt mir, wie er aus Manila geflohen war. Politische Gründe. Und natürlich habe er Saya mitgenommen.

Irgendwie ist er dann in Rom gestrandet. Das sei gut – die Polizei lasse hier Menschen wie ihn in Frieden. Manchmal würden die Kontrolleure seine Papiere verlangen. Natürlich habe er keine: «Ich schenke ihnen eine Heuschrecke, schon lachen sie. Und gehen weiter. Heuschrecken haben mir Glück gebracht.»

Als ich einen Monat später wieder in Rom war, brachte ich Badrig Schokolade. Er sass noch immer auf dem Pflaster am Corso. Nur hatte er jetzt von Heuschrecken auf Blumengestecke um­gesattelt: «Die verkaufen sich besser. Keiner will das Glück, nur Schönes, das schnell verblüht.»

Wir wurden Freunde. Ich bestellte künftig alle meine Blumendekors bei ihm – eines Tages rief er mich an: «Ich bin in eine Garage gezogen. Saya ist schwanger.»

Die Garage war Wohnung, Blumenshop und philippinischer Treffpunkt in einem. Immer mehr Kunden klopften hier an. Und wollten Dekorationen für Hochzeiten oder festliche Tische. Jeder sagte es dem andern: «Er macht so wunderbare Bouquets, und seine Frau ist guter Hoffnung!»

Kurz: Badrig wurde der grosse Blumenknüller vom Tiber. Und mischte tutta Roma auf. Bald einmal eröffnete er sein erstes Geschäft. Heute betreibt er zwölf Filialen. Und sein ­philippinisches Team schmückt Paläste und ­Kirchen.

Wenn ich sein Geschäft betrete, lässt er alles stehen. Und kommt auf mich zugerannt – seine kleine Tochter beinelt hinter ihm her: «Schau ­Jennica – der Mann hat uns Glück gebracht. Der Mann ist unsere Heuschrecke.»

Als ich nun vor ein paar Monaten gesundheitlich ziemlich angeschlagen im Bett lag, als alles trübe und grau erschien, klingelte es.

Innocent brachte mir ein Paket ans Bett: «Das kam eben per Kurierpost aus Rom.»

Ich öffnete den Karton. Drinnen steckte eine kleine Heuschrecke – fein geflochten aus ­Palmenstreifen. Dabei ein Kärtchen: «Nur Mut – Heuschrecke bringt Glück… Badrig.»

Dienstag, 19. Juli 2016