Anrufe

Sie starrte auf ihr Handy.

Ihre Hände waren feucht – ihr Hals trocken.

Schliesslich atmete sie durch. Und tippte die ­Nummer ein.

Sie liebte ihn. So wie sie noch nie geliebt hatte.

Celine hatte selber nie viel Gefühl empfangen.

Den Vater kannte sie nicht. Ihre Mutter schwieg sich da aus: «Er ist nicht wichtig, Kind.»

Im Kinderhort war es schwierig. Das Mädchen sonderte sich ab. Sass in einer Ecke. Und schaute stumm den anderen zu.

Auch in der Schule war sie eine Einzelgängerin. Die Art von Arm ums Blatt: damit keiner bei einer Prüfungsarbeit abschreiben konnte.

ES WAR NICHT DIE ART, SICH FREUNDE ZU SCHAFFEN.

Sie fühlte sich schon früh zu älteren Männern ­hingezogen. Psychologen hätten darin ein ­Verhaltensmuster erkannt: Sie suchte ihren Vater.

Die Mutter war mit ihrer Selbsterfahrungsgruppe beschäftigt. Und froh, dass die Tochter keinen Stress, sondern neben den Hausaufgaben das Nachtessen machte.

«Celine ist ein bisschen schwierig», erklärte sie, wenn die Gruppe sich bei der Hand nahm.

Celine hielt keine Hände. Und suchte noch immer das Glück. Vor allem suchte sie Liebe. Und ­Zärtlichkeit. Nach der Matur studierte sie Jura. Brach das ­Studium ab. Und kam als Sekretärin in ein Anwaltsbüro.

«Sehr zuverlässig», urteilte ihr Chef. «Aber leider nicht sehr kommunikativ…»

Er meinte eigentlich: kein heisser Stuhl. Nicht sexy.

Aber das war nicht die Sprache eines Anwalts.

Celine war diese Art von Frau, die Mann gerne übersah: nicht hässlich. Nicht schön. Nicht ­markant. Na ja – NICHTS.

Und dann kam dieser Neue. Rolf. Graues Haar. Warme, braune Augen. Und eher schüchtern.

Er war für die Patente verantwortlich.

Bereits beim ersten Mal hatte Celines Herz ­gehämmert: ALARM… ALARM…

Doch eben: Rolf beachtete sie nicht. Er lächelte ihr wohl dankbar zu, wenn sie ihm ein Espresso­tässchen hinzitterte. Und er freute sich über die Blumen, die sie ihm an einem Montagmorgen aufs Pult stellte. Meistens Gerbera. Gerbera und ein Zweig Asparagus. Das war immer zu haben.

Der Chef machte eine Bemerkung: «Blumen für Herrn Zoller? Sie wissen, dass er glücklich ­verheiratet ist. Drei Kinder…»

Sie wusste es. Es war ihr egal.

SIE WOLLTE ENDLICH AUCH EIN STÜCK VOM KUCHEN!

Eines Abends tippte sie seine Telefonnummer ins Handy. «Zoller…» – eine Frauenstimme. Celine drückte hastig den roten Knopf.

Ihr Puls raste.

Der Puls raste nun immer abends. Auch nachts.

Manchmal kamen Kinderstimmen. Und nur wenige Male hörte sie ihn. Es war immer dasselbe: «Hallo… HALLO?!»

Dann hängte sie auf.

Die Telefonate waren das Glück, das sie vermisste. Das kleine Glück wurde zur grossen Sucht.

Einmal explodierte die Stimme böse: «Hören Sie doch endlich auf mit diesem Shit!»

Dann Piepston.

Und weiterhin Espresso. Sowie Montagsblumen. Weiter auch: Nichtbeachten seinerseits. Und ahnungsloses «danke!»

Es war bereits nach Mitternacht, als sie die ­Nummer einstellte. Der Verbindungston liess auf sich warten. Dann kam das Band: «Diese Nummer existiert nicht mehr…»

Sie schrie. Heulte.

Am andern Tag meldete sie sich krank.

«Es ist schwierig, ihre innere Blockade zu ­brechen», meinten die Ärzte später im Sanatorium zu ihrer Mutter.

Diese seufzte: «Sie war stets ein schwieriges Kind!»

Dann Hände halten. Und Trost in der ­Erfahrungsgruppe.

Montag, 21. März 2016