Das quadratische Ei

S i e war der Theatergänger.

E r nicht.

Er pflegte lieber einen gemütlichen Jass. Dazu ein Bierchen. Mit Schaum bis zum Rand.

«Du musst dein Niveau heben, Walti!» – hatte Hildi ihn vorwurfsvoll angeschaut. «Dein Geist ist einbetoniert in Sonntags-‹Tatort›, Jassrunde und Herrenwitze. DAS KANN DOCH NICHT DEIN GEISTIGES LEBEN SEIN!»

Er sagte nichts. Er hatte einen ziemlich mühsamen Tag hinter sich: drei Sitzungen mit der ­Geschäftsleitung. Sie hatten ihm die Hosenträger krachen lassen – seine Abteilung mache zu wenig Umsatz!

«SO GEHT DAS NICHT, LIEBER MANN! Wir sollten rentieren. Und SIE fahren uns rote Zahlen ein. Es stehen Entlassungen ins Haus, Herr Abächerli! WOLLEN SIE DAS?!»

Er wollte es nicht.

Aber – VERDAMMI! – er konnte die Käufer auch nicht herbeiprügeln.

In der Kantine stierte er vor sich hin. Frau Kramer stellte ihm ein Stück Linzertorte neben den ­Kaffee: «Probleme?!»

«Es geht schon», winkte er ab.

Sollte er sie beunruhigen?

Seine Sekretärin hatte so schon Kummer genug: ein Sohn, der sich die Nase mit Koks volljagte.

Ein Alter, der mit einer Brasilianerin abgehauen war. Und die ­Wohnungskündigung, weil ihr Jüngster drei Mal von der Polizei abgeholt wurde.

«… es ist ein Stück, das die heutige Zeit ­widerspiegelt, Walti. Du musst dich mit dem JETZT befassen. Vor dem Stück gibt es eine ­Einführung des Regisseurs. Er sagt, worum es geht…»

Walter schwieg. Weshalb musste ein Regisseur sein Stück erklären?

Konnte er es nicht so ­inszenieren, dass jeder kapierte, was er meinte. Das wäre doch eigentlich die Kunst der Sache…

«‹Das quadratische Ei› hat umwerfende Kritiken!» – strahlte Hildi nun. Sie klopfte mit dem ­Zeigefinger auf die Zeitung. Und zitierte: «…die zählangen Pausen zwischen den Dialogen, lässt die Spannung brodeln und…»

SO EIN BLÖDSINN!

Walter rief seinen Jasspartner an: «Kann nicht …ich muss ins ‹quadratische Ei›!»

Der lachte herzlich.

Drei Mal hatte Hildi ihm nun schon den Ellbogen in die Hüften geknallt: «Jetzt reiss dich ­zusammen!»

Er war immer wieder eingenickt.

Die Spannung zwischen den Dialogen hatte sich bei ihm n i c h t eingestellt.

Aber er hatte die ­stummen Pausen als angenehm empfunden. ­Walter empfahl sich geistig – und schnarchte ab.

Das Bühnenbild war karg. Oder eigentlich gar nicht da. Quadrate wurden hin und her geschoben. Davor stand ein junger Schauspieler. Er wollte sich den goldenen Schuss geben.

Grund: das Schlechte dieser Welt.

Seine Partnerin setzte eine Flasche mit Gin an: «DIE MENSCHHEIT IST ZUM KOTZEN!» – sagte sie nun bereits zum achten Mal.

Das Stück ist es auch – dachte Walter.

ER WUSSTE, DASS DIE MENSCHEN MIES WAREN. Deshalb sehnte er sich nach einem Bier.

Und überhaupt: Wo war das Ei?

«Das war doch symbolisch…», erklärte ihm Hildi später im «Braunen Bären». «Du bist intellektuell wirklich ein Eichhörnchen … der Regisseur hat in der Einleitung erklärt, dass er die Leute mit dem Ei aufrütteln will und…»

BEI WALTER HATTE NICHTS GERÜTTELT.

Im Büro hatten sie ihm fünf Stellen gestrichen.

Morgen musste er es Frau Kramer eröffnen.

Montag, 7. März 2016