Meine Alten mochten Fasnacht nicht. Sie wetterten (für einmal synchron!) in derselben Tonart: «Verpuffte Energie! Diese Stadt könnte ihre Kräfte anders einsetzen als mit Fünferrufen…» Ich aber liebte es, mich zu verkleiden. Wollte anders sein. Zumindest während dreier Tage im Jahr. Ich war eh der Überzeugung, nach meiner Geburt habe eine schreckliche Verwechslung stattgefunden. Wenn ich solche Bedenken anmeldete, schaute Mutter mich lange an: «…und jetzt stell dir mal vor, wie es uns geht: Genau solche Überlegungen stellen deine Eltern jeden Tag an!»
Der Bub schwieg gekränkt. Und war überzeugt, irgendwann würde ein Königshof bei der Trämlersfamilie anklopfen: «Heee – ganz grosser Irrtum. Gebt uns den Prinzen zurück!»
Die Fasnacht ist für solche Träume geschaffen: jetzt können sie Wirklichkeit werden. Ich träumte davon, als totblasses Schneewittchen durch die Strassen zu gehen. Oder als Dornröschen vom königlichen Stammhalter wach geküsst zu werden. UND DANN AB AUFS SCHLOSS!
Ich wäre auch schon mit der Verkleidung des Rotkäppchens zufrieden gewesen. Rot stand mir gut. Doch wenn ich von meinen Alten ein knallrotes Busi-Mützlein (so hiessen diese Buben-Käppchen damals) ertrotzen wollte und nicht eines in dieser Farbe getrockneter Hundescheisse, da kamen die gleich ins Hyperventilieren: «Dich hats ja wohl – wir sind hier nicht an der Fasnacht!»
Gottlob gabs die Kembserweg-Omi. Sie hatte den Busen stets über dem Putzkessel hängen – aber das Herz auf dem rechten Fleck. Jedenfalls erschien die Omi eines Tages mit einem Piccolo. Und erklärte: «Der Bub sollte in eine Clique. Das ist gut für seine Entwicklung. Einzelkinder integrieren sich sonst schlecht…»
Mutter hatte sofort Atemnot. Und betrachtete ihre Schwiegermutter, als hätte ihr diese Brandlöcher ins weisse Sofa gepafft: «WIR HABEN AUCH SO GENUG PFEIFEN IN DIESER FAMILIE…» Und Vater fauchte seine Mama respektlos an: «Dir hats doch ins Gehirn geschissen … was weisst du schon von Integration!» Vater sah sich als Politiker links aussen. Er bezog sein Integrations-Wissen aus Parteipamphleten. Und der Arbeiter Zeitung.
Die Kembswerweg-Omi aber hatte Praxis. Als Putzfrau traf sie in den Fabriken überall live auf Integrationsfälle: «Der Bub von Giovanni Tizzi aus dem Bau 310 ist bei der ‹Jungen Lälli›. Er pfeift. Und entwickelt sich prächtig…»
«Baberlababb», sagten die Eltern. Es war das Allerweltswort, wenn sie nicht mehr weiter wussten. So ungefähr wie heute das «Man-muss-es- auch-einmal-aus-einem-andern-Blickwinkel- Betrachten!» in der «Tele-Arena»…
Unerwartet kam Schützenhilfe aus einer Ecke, von der es niemand erwartet hatte: Die Omama der vornehmen Seite unterstützte die Proleten-Omi: «Wo sie recht hat, hat sie recht. Der Kleine ist seltsam. Und so etwas legt sich, wenn er andere Kinder um sich hat…» Später hat sich dann herausgestellt, dass die Omama als kleines Mädchen auch zur Fasnacht wollte. MAN LIESS SIE NICHT.
Fasnacht war erstens für den Mobb. Und zweitens schon gar nichts für Mädchen. Man schloss die Kleine ein. Und wenn das vielleicht auch nicht der Grund wurde, weshalb sie später von der übrigen Familie «der Satansbraten» getauft wurde: Es hatte sie dennoch geprägt. Sie war jedenfalls bereit, für meine Piccolostunden das nötige Geld aufzuwerfen. Und auch die Fasnachtskostüme zu blechen.
Mehr schlecht als recht lernte und orgelte ich die ersten Töne. Der Pfiff war mir egal – wichtig war das Wolkenkostüm, das ich in einem deutschen Faschingskatalog gesehen hatte. Das Ganze präsentierte sich als gigantisches Tüllungetüm. Und Tüll war nun mal der Stoff, aus dem mein Leben geschrieben wurde. Führten nicht auch die Prinzenbräute Tüll am Hintern, wenn sie zur Hochzeit schritten? ABER HALLO! Das Tüllwölkchen würde den Cortège aufmischen. Und die Menschenmassen am Strassenrand Tränen der Rührung regnen lassen…
So. Die Vorzeichen standen gut. Man erlaubte mir zwar wegen einiger allzu schrillen Fehlpfiffe nicht im Pfeiferharst mitzulaufen – aber ich wurde als Vorträbler eigesetzt. Und das war mir nur recht so. Es schonte die Lunge. Und man konnte so ungenierter ausmachen, wo die heissesten Prinzen am Trottoirrand standen.
Die beiden Grossmütter also mischten ungewohnt vereint im Warenhaus Knopf die Vorhangabteilung auf. Sie erstanden Tonnen von Gazestoffen, gelöcherte Gardinen ab Meter und Tüllballen. Als Unterlage wurde ein weisses Kindernachthemd eingekauft. Und auf dieses schlichte Kleidungsstück fummelten die beiden Frauen nun wie besessen alle diese Tüllfetzen drauf – ähnlich wie es im Schnittmuster-Bogen «DER LUSTIGE FASCHINGSNARR» aufgezeichnet war.
Man darf sagen: Es wurde ein voller Erfolg. Oder eben: ein stubenvoller Erfolg. Zugegeben – das Zimmerchen der Kembserweg-Omi, wo sie für fremde Leute abends noch Flickarbeiten erledigte und es immer sterbenssüss nach all den Hyazinthen in den Gläsern duftete, der Raum also war klein. Und eng. Aber als ich mich dann erstmals in den 328 Tülllagen wild drehte und fast schon in die nächste Galaxis abheben wollte, erschrak die Omama dann doch: «Anni – ist es nicht ein bisschen zu üppig aufgetragen?»
Doch die Kembserweg-Omi lachte nur: «Er wird damit jeden Tambourmajor in den Schatten stellen – und wir wollen doch nur sein Bestes, nicht wahr Lydia?!»
Leider wollte der liebe Gott das nicht. Sechs Tage vor dem Morgestraich jagte er seinem schönsten Erdenkind die Röteln an den Ranzen. UND AUS DER TRAUM! Der untröstliche Bub wurde mit den beiden Grossmüttern nach Adelboden geschickt. In der guten Bergluft sollte das Kind genesen. Der Kleine aber weinte Bäche – so lange und so reissend, bis ihm die beiden alten Weiber versprachen: «Am Fasachtsmontag darfst du mit dem Kostüm durchs Dorf spazieren. ABER HERGOTTNOCHMAL: HÖR ENDLICH MIT DIESER FLENNEREI AUF!»
So geschah es, dass die drei sich an einem sonnigen Montag auf den Weg machten. Im überfüllten Touristenort warteten die unfasnächtlichen und dennoch stark vermummten Skimenschen auf die Autobusse, welche sie zum Hahnenmoos kurven sollten.
Über dem Dorfplatz brach plötzlich ein Schatten herein. Und es wurde eisig still, als die zwei alten Frauen mit dem ausgefransten Tüllungetüm in der Mitte auftauchten.
Die Omama hatte mir eine kleine, unbemalte Kinderlarve gekauft – wie ein Geisterkopf steckte die inmitten des riesigen Stoffbergs, der arg schwankte. Die Augenlöcher waren nämlich zu klein geraten. Dennoch konnten die harmlosen Kinderaugen das Entsetzen auf den Erwachsenengesichtern ringsum ausmachen.
Nach fünf Minuten wurden wir vom Dorfpolizisten angehalten. Und abserviert. «Sie sind eine pädagogische Null», brüllte die Omama in der Polizeistube. «Das Kind wird einen psychischen Schaden davontragen …» «WIR HABEN IN BASEL FASNACHT, SIE DEPP!», legte die Kembserweg-Omi noch einen drauf. Doch der Polizist blieb die Oberländer Ruhe selber: «Hie isch nit Basu … ihr dumms Wybervoulch …» Und so verzog sich die Wolke wieder brüllend ins Chalet zurück – sie brüllte so lange, bis beide Grossmütter auch brüllten: «JETZT IST ABER GENUG – NOCH EINEN MUCKS UND ES SETZT ETWAS!»
Als ich im Chalet kürzlich den Estrich räumte, ist mit die kleine, weisse Larve in die Hände gefallen. Sie hat mit den Jahren graue Staubstriemen und einige Risse abbekommen – doch die Erinnerungen sind noch immer weiss. Und wolkig. Geblieben ist allerdings die Frage: «Ob es bei der Geburt nicht doch eine Verwechslung war?»