Sizilianischer Trommler

Die alte Frau war alleine in der grossen Wohnung.

Sie öffnete die grosse Schranktüre. Und schloss sie gleich wieder.

SIE SCHAFFTE DAS EINFACH NICHT!

Anna hatte vor zwei Wochen ihren Sohn verloren. Unerwartet.

Carlo war ein Ski-Narr gewesen. Er liebte die Abfahrten fern jeder Piste. Die Lawine kam ­plötzlich.

Wie in Trance war Anna in die Kirche zur ­Abdankung gegangen. Der Sarg war mit einem Tuch bedeckt gewesen – schwarz wie ihr ­Trauerkleid.

Auf dem abgedeckten Sarg: schwefelgelbe ­Mimosen. Die Lieblingsblumen von Carlo.

«In Grosseto blühen sie jetzt», hatte Anna gedacht. Und still vor sich hin gestarrt.

Im Seitenschiff hatte seine Clique auf ­abgespannten Trommeln den Trauermarsch aufs Fell gelegt. Anna musste bei den dumpfen ­Schlägen an die Lawine denken – an die Lawine und ihr Leben in diesem Land.

Als junge Frau war sie mit ihrem Jungen aus ­Sizilien eingereist. Als Putzfrau. Nachts. Wenn der Kleine schlief.

Eines Tages kam der Bub mit einem Stück Holz heim.

«E Gläbbere», erklärte er seiner Mutter. Und liess auf dem Holz zwei Metallbändel mit Bleiköpfen tanzen: «Damit kann man trommeln. Ich will ein Trommler werden…»

Anna wusste nicht, was «Gläbbere» war. Sie kapierte eh nur wenige Worte in dieser Stadt. Aber die rhythmischen Wirbel berührten sie irgendwie.

Als die Primarlehrerin bei ihr vorsprach: «Carlo hat das Zeug zu einem guten Tambour – sie sollten ihn in eine Clique schicken», haderte sie mit dem lieben Gott: «Du nimmst ihn mir weg … er ist kein Sizilianer mehr…»

Sie brachte ihn zu seinem ersten Morgestraich. Er war so aufgeregt, dass er sich vor dem ­Weggehen erbrechen musste.

Nach dem Morgestraich meinte der Trommelchef: «Ohne Carlo würde es nicht tönen…»

Da war Anna ein bisschen stolz.

Die Clique wurde Carlos Leben – die Fasnacht. Die Stadt. «Er ist mehr Schweizer als viele mit dem roten Pass», hatte der Cliquenpräsident Anna erklärt. Es hätte ein Kompliment sein sollen. Sie aber schmerzten diese Worte.

Beim Skifahren lernte er ein Mädchen kennen. Polin.

Anna reagierte bissig: «Muss es eine Polin sein?»

«Du bist hier auch fremd gewesen, Mamma», erwiderte Carlo.

«GEWESEN?!», hatte Anna gedacht. «MAN IST I M M E R EINE FREMDE.»

Er führte jetzt sein eigenes Leben. Die Ehe ging in die Brüche – die Clique war der feste Halt.

Der Obmann redete jetzt vor dem Sarg.

«Ich muss seine Wohnung räumen», dachte Anna.

Auf dem Bücherschrank entdeckte sie dann das kleine Stück Holz mit den Metallbändern. Sie streichelte darüber. Und die Tränen schüttelten sie.

Auf dem Grab lagen drei Wochen später noch Kränze. Einige Blumen waren in der Kälte erstarrt.

Anna legte das Holzstück auf den Boden. Dazu einen Mimosenstrauss.

Dann entdeckte sie die Gestalt vier Gräber weiter, eine junge Frau bettete drei Nelken aufs Grab: «Mein Mann. Krebs. Ein Fasnächtler…», sagte sie stockend.

Die Frauen waren still. Und hingen beide ihren Gedanken nach.

Schliesslich beugte sich Anna zu den Mimosen. Brach einen Zweig ab. Und legte ihn zu der Nelke auf dem andern Grab.

Die junge Frau weinte jetzt. Anna nahm sie in die Arme.

Es war das erste Mal, dass sie sich in diesem Land nicht alleine fühlte.

Montag, 8. Februar 2016