Regen auf Teneriffa

Nancy lächelte ihrem Sitznachbar zu.

«Sieht heiss aus», dachte sie.

Hans lächelte zurück.

«Wowww!», dachte auch er.

Dann entdeckte Nancy seine kleine Narbe ­zwischen Nase und Lippe.

Und sein Blick blieb auf ihrem rötlichen ­Muttermal, über das sie die blonden Haare fallen liess, hängen.

«Aha» – dachten nun beide.

Nancy hat das Muttermal seit ihrer Kindheit. Nichts Gravierendes. Aber es reichte, um sie als junges Mädchen unglücklich zu machen.

ACH, WAS – JUNGES MÄDCHEN!

Auch heute noch griff eine kalte Hand an ihren Hals, wenn sie sich im Spiegel betrachtete. ­Deshalb: langes Haar. Und Flüssigpuder.

Als die Ärzte der Mutter von Hans erklärten, sie habe ein Spaltenkind auf die Welt gebracht, zuckte die zusammen.

«Das ist nicht selten – neben dem Klumpfuss die häufigste Missbildung bei Babys. Man kann das heute wunderbar operieren…» – so trösteten die Mediziner. Bereits im Babyalter kam Hans unters Messer. Immer wieder.

Später, als er die Pubertät hinter sich hatte, war es Zeit für kosmetische Korrekturen. Nun war kaum mehr etwas von der einstigen Hasenscharte zu sehen – geblieben waren die Narben aus der ­Kindheit. Keiner hatte mit ihm spielen wollen. Niemand war zu seinem Kindergeburtstag erschienen.

«Das gibt sich alles», hatte seine Mutter ihn vor dem Tisch mit dem Schokokuchen getröstet.

Nancy hätte Hans Ähnliches erzählen können.

Doch das war hier jetzt nicht der Ort – das ­Schicksal hatte sie nebeneinandergesetzt. Das Ziel: Sonne in Teneriffa.

Natürlich schüttete es. Und zwar zünftig.

Die Reisetante schüttelte jammernd den Kopf: «Es gibt im Januar höchstens sieben Regentage hier … aber die Klimaveränderung…»

IMMER MUSS DIE KLIMAVERÄNDERUNG ­HERHALTEN!

Das Hotel war elegant. Aber für den Bikini gebaut.

Hans kaufte sich als Erstes eine Regenjacke – Nancy eine Wolldecke.

Manchmal sahen sie einander beim Frühstücksbuffet. Lächelten: «Ist das möglich … so ein ­Sauwetter hier!»

Dann gingen sie einander aus dem Weg.

Hans hatte immer wieder eine Beziehung gesucht. Und immer war es schiefgelaufen.

Zuletzt hatte er sich bei einer Partnervermittlung eingeschrieben: «Hasi sucht Häsin.»

Er traf die Frauen in Cafés, Restaurants (Winter) und auf Parkbänkchen (Sommer) – aber es war kein liebeswilliges Häslein darunter. Sie sahen ihn an – und er glaubte diesen Blick zu spüren, mit dem die Mädchen ihm schon in der Tanzschule den Boden unter den Füssen weggezogen hatten: ein Blick von Mitleid, leichter Abneigung und «Nein, danke!».

«Das gibt sich» – tröstete die Mutter.

Ähnlich bei Nancy: Ihre Beziehungen hielten kaum einen Monat. Dann verabschiedeten sich die Galane auf Nimmerwiedersehen.

Einmal hatte sie einen brasilianischen Lover. Er liebte sie wirklich. Und er liebte sie gut.

«Aber nicht so einer!», hatte die Mutter ihre ­Tochter gemassregelt. «Du findest schon noch etwas Anständiges…»

Auf dem Rückflug hatten sie wieder dieselben Plätze. «Das war weiss Gott ein Schlag ins ­Wasser…», lachte Hans.

«Er ist wirklich süss», dachte Nancy. Und berührte seine Hand: «Ja – aber man konnte über so vieles nachdenken…» «Sie ist wunderbar …», ­durchzuckte es ihn. Im Sonntagsfilm von Louise Rinser hätten die beiden ein Jahr später geheiratet. Und die Flitterwochen auf Teneriffa gefeiert. MIT SONNE.

Vor der Gepäckausgabe jedoch lächelten sie ­einander an – dann fast synchron: «Auf Wieder­sehen … vielleicht wieder einmal auf Teneriffa».

Das Leben schreibt keine Sonntagsfilme.

Montag, 25. Januar 2016