Der Schmerz kam plötzlich. Er tat höllisch weh. So als würde jemand mit einem Dolch in meinem linken Fuss rumrühren.
«Innocent!» – ich legte den Lamento-Gang ein. Und griente drauflos: «Mit meinem Fuss stimmt etwas nicht!»
«WASISSS?»
«Mein Fuss! Links. Vermutlich gebrochen.»
«HATS KEINE JOGHURT NATÜR MEHR?»
Ich telefonierte in der Weltgeschichte herum. Gab die Symptome durch. Und erhielt tausend verschiedene Analysen: «Das ist die Gicht – und kommt von deiner ewigen Käsefresserei!» – so weit meine liebe Tante Nettchen. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass sie ein stiller Feind von Fondue, Emmentaler und – UMS HIMMELS WILLEN! – «Ziegenmutschli» ist.
Tom, mein fitter Vetter, der ja in der Branche kaputter Knochen sein Auskommen macht, drückte am Fuss herum. Und kam zum Befund. «Du hast seit jeher flundernplatte Füsse. So wie du geht kein normaler Mann. Und jetzt, im hohen Alter, ist eben alles zusammengestaucht.» Er tönte, als könnte ich direkt mein Grab bestellen.
Nun gut. Die Füsse waren tatsächlich immer ein Problem – so quasi mein Sorgenanhängsel am menschlichen Gebein. Es begann, als ich sieben Jahre alt war. Nach dem Besuch einer Weihnachtsmärchen-Aufführung im Theater wollte ich unbedingt auch so ein tanzendes Schneeflöckchen sein, wie die kleinen Mädchen des Kinderballetts im «Nussknacker»-Traum. Mein Vater machte mich darauf aufmerksam, dass gesunde Buben mit Gewehren ballern oder Fussballtore schiessen würden.
ER HATTE NULL AHNUNG. Ich war schon damals weit vom Schuss. Und sah mich auf Spitzen. Das liebe Kind tobte und verweigerte jede Nahrungsaufnahme, bis seine Mutter es an der Hand nahm. Und diese ewigen Stufen zum Himmel des alten Basler Stadttheaters hoch keuchte. Dort, ganz nahe beim Mond und unter dem Dach der Kultur rackerten sich die Ballettmädchen für einen Hungerlohn an der Stange ab.
In einem Nebensaal voller Spiegel war die Ballettmeisterin mit dem schönen Namen Eva Bajoratis. Man munkelte, dass sie aus Pratteln käme, sich aber der Allüre wegen einen Hauch russischer Vergangenheit zugelegt habe. Jedenfalls schaute die Bajoratis meine Mutter durch eine Lorgnette an: «WAS IST MIT KIND?» Die Geprüfte seufzte schwer: «Es möchte ins Ballett.»
Nun schwankte die Lorgnette in Richtung des zukünftigen Nijinskis. Bei den Füssen machten die Brillengläser halt: «Ist nix Füsse für Tanz – ist flach wie russisches Plinifladen.» ICH SCHRIE ZETERMORDIO. WARF MICH DER RUSSISCHEN PRATTLERIN ZU FÜSSEN. UND WAND MICH UM IHRE SCHWARZEN WOLLSTRÜMPFE: «Ich werde alles tun ... aber ich will ein Schneeflöckchen sein!»
«IST HOCHDRAMATISCHES BUB – ABER SEIN FUSS AUCH DRAMA. WIRD NIE FLIEGEN WIE NIJINSKI.»
Na ja – jedenfalls wurde meine Mutter nun sachlich und erklärte, sie sei Gönnerin des Ballettvereins. Da war ich dann sofort aufgenommen – Fuss platt oder nicht.
Wir waren nur drei Buben im Kinderballett. Einer war Guglielmo – das Kind kalabresischer Einwanderer. Guglielmo hatte wunderbare Füsse. Diese hätten aber lieber Fussball gespielt. Sein Vater jedoch wollte, dass der Sohn im Gastland kulturelle Werte tanken würde. Deshalb prügelte er ihn in den Ballettsaal. Der dritte Bub hiess Max und zählte nicht. Wer Max heisst, sollte bestimmt nicht Tänzer werden. Wurde er auch nicht. Seine Begabung war weniger im musischen als im fingertechnischen Bereich. Jedenfalls flog er aus der Gruppe, als diese Finger auf den Ballettmädchen herumtanzten.
Ich gab mein Bestes, ein Schneeflöckchen zu werden. Ich bog mich an der Stange, lernte die fünf Positionen und drehte die Füsse nach aussen, sodass mein Vater knurrte: «Der Bub läuft nicht normal. Der hat einen Entengang.»
«Das ist Ballett!», korrigierte ich den Trämler vom Sechsertram. «Da fahren die Schienen eben anders.» Allerdings stauchte mich auch Frau Bajoratis aus Pratteln zusammen: «Du nix sein Mädchen mit Ballettfuss nach aussen – du sein Prinz wo marschieren wie Militarist oder grosses Kämpfer!» DA HÄTTTE ICH JA AUCH GLEICH FUSSBALLER WERDEN KÖNNEN.
Es war schwer, als Bub ein Schneeflöckchen zu sein. Der Tag kam, als ich erstmals mittanzen durfte. Mutter hatte den Gönnerbeitrag für den Ballettverein erhöht. Und, nun ja – TANZEN ist etwas übertrieben. VON SCHNEEFLOCKE WAR KEINE REDE. Ich war eine Ratte, welche die Schleppe der grantigen Dornröschenfee tragen sollte – ihr kennt ja die Geschichte, die das Leben schrieb: Sie war nicht zur Party geladen. Und deshalb stinkesauer. Also kam sie doch mit Donner, Doria und allen miesen Verschwörungen – dies in Begleitung von zwölf Ratten an der Schleppe. Ich war Ratte zwölf.
Die Frau aus Pratteln war das Böse. Wir hatten nichts anderes zu tun, als ihre Schleppe zu halten und ganz wild mit den Beinen zu strampeln. Damit der Auftritt noch den dramatischen Pfeffer bekam, wurden wir vom Seitengang mit einem grossen Scheinwerfer ausgeleuchtet. LEIDER VERFING SICH DER PLATTE FUSS VON RATTE 12 IM KABEL DES SCHEINWERFERS. Funken sprühten. Dann ein lauter Knall. Und im Basler Stadttheater war Nacht.
Obwohl meine Mutter den Stiftungsobolus für den Ballettverein noch einmal erhöhte, blieb es balletttechnisch mein erster und letzter Auftritt. Die Hoffnungen auf ein Schneeflöckchen waren für immer geschmolzen.
All dies ist mir durch den Kopf gegangen, als ich im Wartesaal meines Patenbuben, einem stadtbekannten Orthopäden, sass. Ich hatte die Füsse gewaschen und zeigte sie ihm. Lange schaute er darauf. Das Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen. Dann schaute er tieftraurig: «Mit diesen Füssen bist du durchs Leben getanzt?!»
Ich liess die Frage im Praxisraum stehen.
Schliesslich schüttelte er den Kopf: «... so etwas muss ja höllisch schmerzen ... hast du keine Einlagen?»
Ich hatte einen Traum von der Schneeflocke. IN SOLCHEN TRÄUMEN HATTEN EINLAGEN KEINEN PLATZ.
Nun seufzte der Medicus: «Jedenfalls sind diese Füsse flacher als russische Plinis.»
DANKE. DAS HATTEN WIR SCHON.