Von einem explodierten Pneu und Schokokugeln

Illustration: Rebekka Heeb

ES WAR EINE EXPLOSION. UND ES KNALLTE WIE IM KRIEG. Ich sass am Steuer. Und versuchte zu retten, was zu retten war. Neben mir mein fitter Vetter Tom – in unserer Familie auch «das Katastrophen-Emmi» genannt. Wir schlitterten mit 140 Sachen von links nach rechts. Ich peilte den Sicherheitsstreifen an. Und «oh Gott, oh Gott», unkte die Katastrophen-Kröte neben mir: «So jung von dieser Welt… und das, wo ich eben die Steuern bezahlt habe…»

So jung? Tom hat 52 auf dem Zähler. Und 120 im Geist. Zwar hält er seine Knochen fit – und strampelt die Schenkel zur Grösse von Mastschinken. Aber ansonsten: Katastrophe. Katastrophe. Katastrophe.

Ganz langsam bringe ich die alte Karre zum Stehen. Meine Jugend auf den Scooterbahnen hat sich bezahlt gemacht.

WIR SIND DEM ZUSAMMENSTOSS NOCHMALS DAVONGESCHLÄNGELT.

Okay. Ich war vielleicht ein ganz klitzekleines bisschen zu schnell. Und die Pneus hatten schon im vorletzten November das letzte My Profil abgegeben. Doch abgesehen davon, hat mich Chaos-­Tom mit seiner verdammten Suche nach der Sitzheizung madiggemacht.

«Mir ist kalt… ich frier mir noch den Body blau … dies, wo ich eben eine Grippe hinter mir habe… wie stelle ich die Heizungsdinger an… ich schlottere bereits wie ein Skelett im Sturm!»

Ich meine: Derselbe Vetter spielt auf einem fest montierten Strampelstuhl im Untergrund eines miefig stinkenden Fitnesscenters den Spinning-Helden. Dort schwitzt er sich den Arsch nass. Und verliert in der Finish-Ekstase auch noch sein letztes Kopfhaar. Und jetzt hockt dieses Stück harte Männlichkeit jammernd an meiner Seite und schreit nach Heissluft.

So. Ich habe also mit der rechten Hand nach dem Knopf für den Arschbacken-Grill getastet.

Und dann eben: PEEEENG! SCHLEUDER­PARTIE. UND ALARMLABEL AUF DEM TACHO.

Das rote Signal mit dem Ausrufezeichen erklärt dem mechanischen Vollei: ACHTUNG – ES STIMMT ETWAS NICHT MIT DEINEM SCHLITTEN. SOFORT ANHALTEN.

Also – das hätte ich auch ohne Alarmlämpchen kapiert.

UND ANHALTEN?

ERST KÖNNEN VOR LACHEN!

Als wir dann standen, musste ich mir selber auf die Schulter klopfen: Keine kaputte Scheibe, nicht einmal eine Blechbeule – alles verlief so, wie man es im Crashkurs auch nicht besser eingepaukt bekommen hätte. ICH REAGIERTE EINFACH PHÄNOMENAL!

Gut. Lastwagenfahrer haben mich mit dem Stinkefinger-Zeichen überholt. Eine Lenkerin ­kurbelte die Scheibe runter und brüllte: «SEI MATTO?!» Aber das sind Bagatellen, wenn einer bedenkt, dass er kurz vor der letzten Wolke noch die Kurve gekriegt hat.

Nun – mein Panik-Vetter sah das nicht ganz so: «DU FÄHRST WIE EINE GESENGTE SAU! DU GEFÄHRDEST UNSER BEIDER LEBEN – OKAY. DU BIST ALT. UND DA KOMMTS NICHT DRAUF AN. ABER ICH STECKE IN DEN BESTEN JAHREN UND WILL NOCH DEN NEW YORKER MARATHON GEWINNEN…!» Es war der Schock, der ihn so reden liess. Jedenfalls wimmerte er plötzlich vor sich hin. Jammerte: «Ich muss Mammi sprechen… ruf Mammi an!»

DA HABE ICH IHN ZÜNFTIG IN DIE WEICHTEILE GEKNIFFEN (was bei hart trainiertem Fleisch fast so unmöglich ist, als wollte man mit Drittzähnen eine Betonwand durchbeissen) – «JETZT KRIEG DICH WIEDER EIN! DEINE MAMMI HOCKT IM ALTERSTURNEN UND HAT KEINE ZEIT FÜR SOLCHE BAGATELLEN!»

Ich wollte endlich aus dem Wagen steigen, aber die Autos jagten derart rasant und fingernah an mir vorbei, dass ich auch gleich in eine Hackmaschine hätte laufen können…

GOTTLOB HAT HERR HANDY DEN MOBILEN TELEFONAPPARAT ERFUNDEN. Ich legte die weinerliche Klageplatte auf: «Innocent – bist dus? Ich hatte eben einen geplatzten Reifen und…»

Schweigen. Dann: «Ist das Auto noch ganz?»

Da war nicht nur der Reifen geplatzt. Ich habe aufgehängt. Und mein Testament geändert.

Es war dann ein blaues Licht, das mich freundlich in die brutale Wirklichkeit zurückblinkte. Die «Polizia» hatte direkt vor mir parkiert – der erste Uniformierte gab ein Zeichen, ich solle das Fenster auf der Seite des fitten Vetters runterzurren. Dann schaute er in die Karre – und sah einfach nur Schokolade. Schokolade. Schokolade. Inmitten der weihnächtlich dekorierten Aktionsgeschenkschachteln sass der heulende Vetter. Und rief immer wieder: «Ich will die Mammi… ich will die Mammi!»

Der Polizist nahm nun Haltung an: «Liegt jemand unter der Schokolade?» Ich hatte jetzt bereits wieder Oberwasser. «Es ist nur ein dummer Reifenschaden. Peng. Dank meiner grossartigen Fahrkunst konnte ich die Sache geschickt auf die Reihe bringen und…»

Ein zweiter Polizist drückte sich durchs Wagenfester: «Ihre Pneus sind alle abgelaufen… das ist strafbar. Und unverantwortlich…»

«Dann muss dies auf der Fahrt von der Toskana bis hierher passiert sein …bei Orbetello waren alle Reifen noch schwer im Profil…» Nun leitete einer der Polizisten den Verkehr um. Tom stand wie ein hypnotisiertes Schaf am Wegrand. «Wir rufen jetzt den Abschleppdienst!», gab der erste Polizist die Tagesordnung durch.

Schliesslich: «Was ist das für eine Riesen­ladung Schokolade?»

«Verspätete Weihnachtsgeschenke für meine Römer Freunde», erklärte ich. «Aha», sagt der Gesetzeshüter. «Aha.» Und ich wusste, was das bedeutete. OKAY – MAN DARF BEAMTE NICHT BESTECHEN. UND SCHON GAR NICHT NACH WEIHNACHTEN. UND BESONDERS NICHT IN ITALIEN. ABER DIE SIND DOCH ALLE AUF DAS SÜSSE DIESER WELT GEIL. DESHALB: «Wollen Sie ein Versucherli?»

«Assaggio…» heisst die Versuchung auf Italienisch. Jedenfalls hatten die Polizisten bereits drei Pfund von den Lindt-Kugeln mit der Karamell­füllung intus, als der Abschleppwagen kam.

MEIN PROFIL WAR KEIN THEMA MEHR.

Daheim in Rom konnte sich mein Vetter gar nicht mehr einkriegen: «Immer redet alles von dem IS-Terror und den damit verbundenen Gefahren – EINE AUTOFAHRT MIT DIR IST WEITAUS RISKANTER!»

AUCH ER IST AUS DEM TESTAMENT RAUS!

Dienstag, 5. Januar 2016