Vom Mann im Rhein und von der Hoffnung…

Illustration: Rebekka Heeb

Die Story habe ich nie jemandem erzählt. Manchmal geschehen Dinge im Leben, da weisst du nicht, wie du sie einordnen sollst. Wunder? Geheimnisvolles aus einer unbekannten Welt? Oder einfach nur Zufall? BESSER, NICHT NACHZUGRÜBELN.

Die Geschichte hier begann am Rhein. Wir drehten damals fürs Fernsehen ein paar Sequenzen beim Grossbasler Ufer: Nebelschwaden. Das moosgrüne Wasser. ­Stimmungsbilder eben. UND DANN SAH ICH DIE SCHWARZE GESTALT IM WASSER.

Zuerst dachte ich an eine Leiche. Na ja – ­«Tatort» spukt immer im Kopf herum. Dann aber tauchte die Leiche aus den Wellen. Ein Mann in schwarzer Badehose. Lachend: «Ich bin der Mann im Rhein…» BITTE – ES WAR NOVEMBER. KAUM DREI GRAD WARM! NICHT GERADE DIE ZEIT FÜR EIN WONNIGES RHEINSCHWIMMEN!

Nico, unser Kameramann wollte den Taucher als winterlichen Neptun aufnehmen. Der Mann winkte lachend ab: «Ich mache das für mich. Und nicht für die Kamera…»

Dann erzählte er mir, er sei drei Schritte vom Rhein weg aufgewachsen. Beim Breite-Bad. Und er sei schon als Kind hier abgetaucht. Denn der Fluss habe ihm noch schönere Geschichten erzählt als seine Grossmutter: «Ich unterhalte mich jeden Tag mit dem Wasser. Wenn du genau zuhörst, kannst du das Murmeln der Kiesel hören. Du entdeckst wunderbare Pflanzen – je nach Jahreszeit. Und winzige Fische tanzen um dich herum. Ich hab mich mit allen angefreundet. Und heute ­verstehe ich, was sie mir sagen wollen – sie reden gescheiter als die Menschen auf all den politische Konferenzen dieser Welt. Und die Steine haben jahrtausendealte Erfahrung…»

Er berichtete auch, wie er nach der Sandoz-Katastrophe ins Wasser gestiegen sei: «Alles war jetzt unheimlich. Still. Ich dachte: So geisterhaft muss eine ausgebombte Stadt sein. Selbst die Steine waren stumm. Doch schon bald tanzte wieder ein Fisch um mich herum. Und die Kiesel schenkten mir mit ihrem Gemurmel Hoffnung: ‹Die Menschen sind dumm … sie wissen nicht, wie stark die Natur ist. Und welche unentdeckten Geheimnisse sie birgt…›»

Ich hätte gerne länger mit dem ­Taucher gesprochen, hätte auch gerne eine Geschichte über ihn geschrieben. Aber immerhin war es eisig kalt. Der Badehosen-Neptun tropfte wie ein Regenschirm. Also bat ich ihn nur um seinen Namen. Und habe den später prompt ­vergessen. Die Adresse verlegt. So wie es im Leben eben oft passiert: Man wendet sich Dingen zu, die wichtiger scheinen. Und übersieht das wirklich Wichtige.

Im Sommer, wenn der Bach voll von fröhlichen Baderatten war, habe ich mitunter an meinen Neptun gedacht. Habe den Freunden von ihm erzählt: «Es gibt hier einen, der taucht jeden Tag zu den Kieseln. Dies selbst im Winter. Er kennt die Sprache ihres Murmelns. Und sie erzählen ihm vom Leben, das sich über dem Wasser abspielt…» Sie lachten dann: «Ja, ja – das ist der Eisbären-Club. Die Mitglieder schwimmen auch im Winter im Rhein…» Der Mann hatte nicht nach Eisbären-Club ausgesehen. Er war ein Einzelgänger – ein Einzelschwimmer.

Etwa drei, vier Jahre später erkrankte Innocent plötzlich. Er hatte hohes Fieber. Musste ins Spital. Alle Ärzte waren ratlos. Das Fieber blieb – trotz stärkster Mittel. Innocent wurde immer schwächer. Ich war ­verzweifelt. Eigentlich hatten wir wie jedes Jahr an Weihnachten auf die Insel fahren wollen. Daran war nicht zu denken. «Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen», sagten die Ärzte.

Es war wohl die schwärzeste Zeit in meinem Leben. Ich wollte niemanden sehen. Jagte vier-, fünfmal täglich ans Krankenbett. Innocent schlief die meiste Zeit. Wenn er mal wach war, lächelte er nur schwach: «Es wird schon werden…»

Mein fitter Vetter Tom und ich hatten den ­Heiligen Abend an Innocents Krankenbett verbracht. Nun stand die Silvesternacht vor der Türe. «Ich mache dir die Pastete, die du so gerne magst…», sagte ich zu Innocent. Und wusste, er würde sie nicht anrühren. Er ass seit Wochen kaum mehr einen Bissen. Ich wollte jetzt keine Menschen mehr sehen. Alleine sein.

Mit meinen Gedanken ging ich jeden Tag zum Rhein. Hockte mich bei der St.-Alban-Fähre auf einen Stein. Und redete mir den Schmerz aus dem Bauch. Der Silvester­morgen am Fluss war grau. Neblig. Die Sonne zeigte sich nicht – plötzlich aber sah ich die schwarze Gestalt im Wasser. Sie kam zu mir geschwommen. Stieg ans Ufer. Und hielt mir die Hand hin: «Unter den Wellen ist es sonnig. Und hell. Ich habe diese funkelnden Steine gefunden…»

In seiner Hand leuchteten kleine Kristalle auf. «Such dir fürs neue Jahr zwei aus – einen für dich. Einen für deinen Freund. Sie werden euch Glück bringen…»

In diesem Moment flammten die Steine auf – die Sonne hatte sich durch den Nebelschleier gekämpft. Ich heulte. Und der Rheinmann nickte: «Dir gehts schlecht – ich weiss. Aber alles wird gut. Das sagen die Steine…»

Ich hielt die beiden winzigen Kristalle in der Hand. Und fuhr ins Spital. Vor Innocents Krankenzimmer eilte die Stationsschwester mir entgegen: «Es ist unglaublich – er ist seit zwei Stunden fieberfrei…»

Innocent sass aufrecht im Bett: «Du glaubst nicht, was für einen Bärenhunger ich jetzt habe… hast du nicht etwas von einer Pastete gesagt, die du mir für Silvester backen willst?»

Ich heulte wieder – unsereins ist eben nahe am Wasser gebaut. Und hier wars am Rhein.

Ich drückte ihm den kleinen Kristall in die Hand: «Bewahr ihn gut auf – er bringt dir Glück im neuen Jahr!»

Zum ersten Mal lachte Innocent wieder: «WAS DU IMMER GLAUBST. Wo hast du das her?» – «Von Neptun persönlich …», sagte ich. Und behielt die Geschichte für mich. Bis heute.

«Es wird gut», hatte der Mann aus dem Rhein gesagt. Wir dürfen nicht verzweifeln. Es ist die Hoffnung, die uns das Leben macht…

Dienstag, 29. Dezember 2015