Casting

Das Kind heulte.

Teerschwarze Striemen zogen sich über das dick gepuderte Gesicht. Der grellrot geschminkte Mund zitterte:

«ICH WILL NICHT MEHR!»

Die Stimme der Mutter reagierte eiskalt: «Mireille... reiss dich zusammen. Sonst setzt es was...»

Sie griff zur Kleenex-Schachtel: «Schau mal in den Spiegel...  willst du so die Schönste sein?»

Mireille schwieg. Sie war jetzt sieben Jahre alt.

SIE WOLLTE SCHON LANGE NICHT MEHR DIE SCHÖNSTE SEIN.

Lisa hatte die Szene beobachtet. «Zum Kotzen», dachte sie bei sich. «Man müsste solche Mütter im kochendem Öl frittieren!»

Seit drei Stunden bereits kamen diese ehrgeizigen Weiber mit ihren aufgemotzten, lebenden Puppen ins Studio. «FLEXI» suchte einen weiblichen ­Kinderkopf für seine TV-Werbung – alles ganz harmlos: Ein fröhliches Mädchen schüttet Milch in eine Schüssel mit «FLEXI-Flocken.» Dazu sollte es flockenselig «Mmmmmmm!» – sagen.

Fertig.

Die Firma hatte ein Inserat geschaltet. Titel: «FLEXI SUCHT DEN KINDERSTAR!»

Schon war in diesem Werbestudio der Teufel los.

Mütter gingen wie wild gewordene Kühe ­aufeinander los. «MEINE TOCHTER KOMMT ZUERST ... ICH HABE IHR DIE LIPPEN MIT ­GLIMMER PRÄPARIERT ... DAS HÄLT NICHT LANGE!» Und: «Umshimmelswillen – mit ihrem Kind können Sie vielleicht eine Schiessbude bewerben. Das sieht doch jetzt schon aus wie Schnalle drei auf dem Kiez...»

Die beiden Weiber gingen einander kreischend in die Haare. Die Kinder jedoch stierten stoisch auf ihre Handy-Games. Sie waren solche hysterischen Ausbrüche gewohnt.

Natürlich beäugten die Mütter mit Argusblicken die Konkurrenz. Und die war mindestens so ­hochgedonnert wie an der Miss-Wahl um die Europa-Krone. Die meisten Mädchen wurden bereits als ­Dreijährige von Mammas eisernen Fingern zum Star getrimmt.

Ihre Erstzähne wurden sofort gebleicht. Die Haare mit heissen Wicklern gelockt. Und natürlich war der Wicklung eine Tönung vorangegangen. 90 Prozent der Mini-Girls zeigten dieses grelle Blond, welches die Monroe berühmt gemacht hatte. Und alle sahen sie aus wie Bonsai-Kindsbräute, auf deren zarten Gesichtern sich ein ­Visagist ausgetobt hatte...

«Ich will heim», sagt nun Mireille sehr bestimmt.

Das Kind zurrt den Reissverschluss von seinem ­Fendi-Rucksack zu.

«Du spinnst doch», jault die Mutter auf. «Rezitiere ihnen das Gedicht von der Eisfee...» – die Frau schaut in Panik zu Lisa: «Mireille kann auch den Spagat. Das Kind bekommt ­klassischen Ballett-­Unterricht. Dazu: Steppen und Gesang...»

Jetzt jammert sie: «Wir brauchen doch den Job ... ich habe schon so viel in die Kleine investiert...»

Lisa seufzt. Auch diesen Investitionssatz hat sie heute bereits mehrmals zu Ohren bekommen.

Sie nimmt die kleine Mireille an der Hand: «Natürlich darfst du nach Hause, Mireille... aber sag mir, WEN willst du sein? Welche Rolle ­möchtest du am liebsten spielen...?»

Für einen Augenblick war es still im Studio. Alles schaute gespannt auf das siebenjährige Kind, das nachdenklich am Zeigefinger kaut.

Schliesslich lächelte die Kleine: «Am allerliebsten möchte ich das Christkind sein...»

Allgemeines Gelächter. Wieder das Kreischen zweier Mütter. Und: «Das nächste Mädchen...», rief der Produzent. «...weshalb das Christkind?», ­flüstert Lisa nun zu Mireille.

Dessen Blick ist leer, fast traurig. «Alle lieben das Christkind... vielleicht hätte mich meine Mutter lieb, wenn ich das Christkind wäre...», sagte es. Machte einen artigen Knicks.

Und ging hinaus ins Leben, das für Kinder oft schwieriger ist als nur ein Spagat.

Montag, 14. Dezember 2015