Erika

Fanny rupfte die Erika aus dem Grab.

AUSGERECHNET!

IHRE MUTTER HATTE ERIKA GEHASST.

Es schien, dass dieses struppelige Heidekraut für Friedhofsgärtner in halb Europa d i e November-Pflanze war.

Primelchen im Frühling. Stiefmütterchen im ­Sommer.

UND DANN KOMMT ERIKA!

Die Grabreihe, in der ihre Mutter seit Jahren ruhte, sah aus wie ein Stück Moorland: blühende Besenheide. Und «Besen» war wohl das treffende Wort für die etwas spröden Stängel mit den ­winzigen Blüten im rosigen Ton eines ­verwaschenen Baby-Lätzchens.

Fanny musste bei Erika stets an Tante Milli ­denken. Kaum kamen die dunklen Tage, zitterte dieses Miniatur-Gestrüpp auf Millis Fensterbrett.

Irgendwie waren die Stöckchen typisch für die ledige Schwester ihrer Mutter: spröde. Unnahbar.

Als Tante Milli starb, schüttete man ihre Asche ins «Grab der Gemeinsamen».

Fanny hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte Milli nie an ihrem letzten Ruheort besucht. Dabei hatte die Gute der Nichte einen netten Batzen ­hinterlassen. Fanny hatte sich mit der Erbschaft einen Occasions-VW und eine Reise nach ­Edinburgh geleistet. Im schottischen Moor wurde sie dann auf Schritt und Tritt an ihre Gönnerin erinnert: Erika, so weit das Auge reichte.

Fanny schaute jetzt etwas ratlos auf die kleinen, immergrünen Zwergsträucher, die sie auf den Friedhofweg geworfen hatte.

WOHIN ENTSORGEN?

Sie drückte die unschönen Löcher im Grab der Mutter mit dem Schuh wieder etwas eben. Und versprach dem Grabstein: «Nächstes Jahr bringe ich dir frische Blumen. Astern. Welche Blumen hast du eigentlich gemocht …?»

DER GRABSTEIN SCHWIEG.

Nur der goldene Spruch, in dem sich etwas Moos angebaut hatte, sprach Bände:

«Oftmals wollte ich verzagen,

doch ich tat es nie.

Und ich hab’ so viel ertragen.

Nur darf keiner fragen wie …»

Als die Mutter im Sterben lag, hatte sie Fannys Hand genommen: «Versprich mir zwei Dinge: NIE ERIKA! DEIN VATER HATTE EIN VERHÄLTNIS MIT EINER: SEINE SEKRETÄRIN, DU WEISST!»

Nein. Fanny hatte keine Ahnung.

«Aber Mammi», stammelte sie etwas hilflos, «das hast du dir sicher nur eingebildet!»

Noch einmal kam Glut in die Augen der Todkranken: «ICH WEISS, WAS ICH WEISS. ICH HABE DAMALS EINEN DETEKTIV ANGEHEUERT … ERIKA VOGEL WAR EINE RICHTIGE SCHLAMPE!»

Dann kam Punkt Nummer 2. Die Mutter nistelte in der Schublade ihres Krankentischchens. Und zog ein Couvert hervor: «Schwarzer Marmor. Und Stechschrift. Golden …»

Im Couvert steckte der Grabsteinspruch. Und eine Liste, wer an der Abdankung «unerwünscht» war.

ERIKA STAND GANZ OBEN.

Damals hatte Fanny gemerkt, wie weit weg sie von ihrer Mutter war. Es hatte nie ein liebes Tochter-Mamma-Verhältnis gegeben. Sie hatten beide auf fremden Planeten gelebt. Ihre Mutter war mit den Affären ihres Ehemannes beschäftigt – ihr Kind war beim Grübeln nur ein Störfaktor gewesen.

Immerhin – einmal, an Allerheiligen, suchte Fanny das Grab mit dem schwarzen Marmorstein auf. Und schaute zum Rechten.

«Gefallen Ihnen Erika nicht?», holte sie eine Stimme aus allen Gedanken.

Ein Friedhofsgärtner sammelte kopfschüttelnd die herumliegenden Zwergbüsche ein: «Sie haben kleine, wunderschöne Blüten , vier Kron- und vier Kelchblätter – aber das sehen die Leute nicht. Die Menschen sind oft blind für das Schöne.»

«Vielleicht», murmelte Fanny.

Und notierte in ihre elektronische AGENDA 2016 unter Allerheiligen: Astern mitbringen!

Montag, 2. November 2015