Lore wartete.
Ihr Leben bestand nur aus Warten.
Sie hatte auf die grosse Liebe gewartet.
Dann auf ein Kind.
Und immer wieder wartete sie bei den ARRIVI des Römer Flughafens Fiumincino auf den Swiss-Flug von Zürich.
Lores Finger hielten einen Karton: «LIMMAT TOURIST».
Seit bald 30 Jahren holte sie für den Reiseunternehmer Touristengruppen ab.
Lore versprühte professionell gute Laune – draussen stand Pipo mit dem Kleinbus bereit. Er würde die Herde im Hotel abliefern – und sie würde mit strahlendem Lächeln die gewohnten Nörgeleien abwehren («das Zimmer ist viel kleiner als auf dem Prospekt»).
Als Erstes würde sie alle zu «Memmo» führen. Sein üppiges Antipasto glättete immer die Wogen. Und nach der dritten Runde «Frascati» war die italienische Welt in Ordnung.
«Sie habens gut», schwärmten die (zumeist weiblichen Touristen) jetzt, «immer Sonne...gutes Essen...heisse Männer...»
Und Lore lächelte die Frauen an.
Sie liess ihnen den Glauben an das süsse Gelato-Italien. Das gehörte zum Job. Einwände wie «wir hatten gestern den 23. Busstreik in diesem Sommer» oder «auf den Abfallbergen vor meiner Einzimmerwohnung in der Via Tuscolana tanzen 100 Ratten Samba» hätte nur die Stimmung gekillt. Für die Touristen fand Rom rund um die herausgeputzten Monumente und prächtigen Plätze statt. Jedoch sicher nicht in den Aussenquartieren, wohin sich die Bürger zurückgezogen haben. Um in billigeren Wohnungen überleben zu können.
Mit 22 war Lore erstmals in die Ewige Stadt gekommen. Beim Pantheon hatte sie sich in einen der Portrait-Maler verliebt. Nico. Er war begabt. Aber leider nicht zuverlässig.
Nico hatte sich bald einmal nach Venedig davon- gemacht. Lore blieb.
Sie schlug sich als Reiseführerin durch.
Dann gabs ein Verhältnis mit Sergio, einem verheirateten Mann.
Lore hätte von Sergio gerne ein Kind gehabt.
Eines Abends wartete seine Frau vor der Haustüre. Sie weinte. Auch sie wollte immer ein Kind von Sergio – es klappte nicht. Und am Schluss lag sie in Lores Armen. Zum Kapitel «Sergio mit Kind» wurde jetzt der Schlusspunkt gesetzt.
Nein – es war nicht das italienische Bilderbuchleben, von dem sie immer geträumt hatte.
Manchmal fühlte sie so etwas wie Heimweh. Doch wenn Lore dann in den Zug stieg und ihre Mutter in Wallisellen besuchte, wusste sie nicht, weshalb sie Heimweh gehabt hatte.
Wieder kam ein kleiner Schub von Menschen, welche Koffer wie müde Hunde hinter sich herzogen. Lore hielt den Karton hoch.
Ein Mann winkte aufgeregt den Rest der Gruppe herbei: «HIER IST SIE!»
«Ich bin Lore...», strahlte sie ihre neue Touri-Gruppe an, «Benvenuti a Roma!»
«Sie haben auf dem Flug nicht einmal Champagner serviert...», klagte eine Rentnerin mit dem «LIMMAT TOURIST»-Käppchen.
«Dafür wartet ‹Memmo› mit einem köstlichen Nachtessen...» tröstete sie Lore.
«Wir vertragen keine Tomaten», meldeten sich zwei Frauen.
Lore schloss die Augen: Es würde nicht einfach werden.
Am zweiten Reisetag blieb eine der allergischen Tomatenfrauen bei einem Schuhverkäufer vor dem Trevi-Brunnen hängen. Sie kam erst am andern Morgen mit 20 Paar Sandalen ins Hotel zurück.
«Ich bin ja so verliebt...», nahm sie Lore am Arm «wie ich Sie um Rom beneide: ...heisse Männer ...immer Sonne.»
Lore dachte an die Ratten und den Abfall vor der Wohnung.
«Ja», lächelte sie.