Sessellift

«Dös Frauerl schpinnt!» – Toni, der Billeteur an der Talstation zum Südtiroler Vigiljoch, brüllte in sein Funkgerät: «Lass-sy aifoch wider runter!»

Der Mann, der den Touristen auf den etwas arg schaukelnden Sessellift half, hatte bei Kunigunda den gelben Knopf gedrückt. Sofort verlangsamte sich die Spule mit dem Drahtseil. Und «grazie», nickte Kunigunda. Dann in astreinem Deutsch. «Das wäre nicht nötig gewesen – so alt bin ich noch nicht…»

Sie hüpfte auf den lottrigen Holzsessel, klappte den Sicherheitsbügel runter. Und rief Toni zu: «Einfach fahren lassen. Ich wills geniessen…»

«Verrückts Weiberl» – knurrte der. Und gab noch mal direkte Anweisung über Funk: «Grüans ­Huaterl mit gelben Marillen drauffi… nät ­stoppen … nunterfahri lossen… s old Muaterl hott guat zohlt!»

Tatsächlich war der Fahrt ein Geschäfts-Discours vorangegangen: «Ich möchte etwa 20-mal rauf und runter … es ist eine Erinnerungssache, guter Mann!»

Toni hüstelte: «Also dös hammer noch nie…»

Kunigunda steckte ihm 100 Euro zu: «Ich habe gesehen, dass ihr für eure Meraner Skiball- Tombola sammelt…»

Damit war die Sache geritzt.

Der Sessel trug Kunigunda über die Wiesen. Sie schwebte über Kastanienästen mit zartgrünen Kugeln. Über flammenden Hagebutten und ­teerschwarzen Heidelbeerstauden.

Kunigunda genoss den Moment, liess sich vom Wind liebkosen und winkte dem Kontrolleur, der sie an der Gipfelstation erwartete, zu. Dieser hatte die Sache mit den 100 Euro mitbekommen. ­Salutierte. Und schon gondelte die Alte an ihm vorbei wieder zu Tal.

Endlich löste Kunigunda das Silberkettchen mit dem glitzernden Kreuz vom Hals.

Sie schloss die Augen. Und dachte an Ernesto.

In Meran hatte sie ihn kennengelernt.

Kunigunda war mit ihrer Mutter im «Meranerhof» abgestiegen. Mittags gabs dort: Kaffee, Kuchen, Konzert.

Ernesto sass am Klavier. Er sang: «Duu… duuu… nur duu allein!»

Er sang nur für Kunigunda.

An den freien Morgen begleitete der Sänger das Töchterchen aufs Vigiljoch. Er kannte dort eine kühle Höhle.

Sie genoss die Fahrt auf dem Sessellift – genoss es, wenn er ihr galant aus dem Sitz half.

So spazierten sie 14 Morgen lang zu der kühlen Höhle. Mittags dann: «Du… duuu… nur duu allein!»

Am letzten Tag steckte er ihr die Kette mit dem Kreuz zu: Er würde sie nie vergessen. Und sofort schreiben…

Kunigunda wartete auf seine Briefe – Wochen. Monate. Jahre.

Wenn am Radio «Duu… duu… nur duu allein» erklang, tupfte sie ihre Tränen weg.

Sie heiratete nie. Sie trug ihre Liebe als Kreuz mit sich – aber sie wollte alles noch einmal sehen. Noch einmal atmen.

Und vor allem: Sie wollte das Kreuz hier der ­Vergangenheit zurückgeben.

Als Kunigunda zum 18. Mal an der Bergstation vorbeischwebte, lag sie etwas schräg im Sessel.

Die Männer drückten den roten Knopf: ­«Grüzitürken – s olt Muaterl isch mausitoot!»

In der Hand hielt Kunigunda noch immer das Kettchen mit dem Kreuz.

Toni nahm es an sich.

Es wurde die Gewinnnummer 372 an der Meraner Skiclub-Tombola.

Der Knödel-Bauer gewann den Schmuck. Und schenkte ihn seiner Enkelin.

Die verscherbelte das Kreuz bei einem Trödler. Und lies sich fürs Geld ein Tattoo stechen. ­Irgendwas mit Delfinen.

Die Geschichte mit dem Kreuz geht natürlich ­weiter. Aber Kunigunda hat uns gelehrt: Man muss auch einen Schlusspunkt setzen können…

Montag, 21. September 2015