Vom Sportstag und dem Streichresultat

Illustration: Rebekka Heeb

Es gab zwei Tage im Schuljahr, die ich hasste: den Wandertag. Und den Sportstag.

Heute macht alles ein Riesentheater um Sport. Er sei gesund. Und helfe, die Menschen länger leben zu lassen.

ABER WOLLEN WIR DAS?

Eine AHV-Herde von bretterflachen Rucksackwanderern?

Noch schlimmer: die lustige Oldie-Gruppe mit Fahrrad, Schildmütze (verkehrt rum) und 23 Schrittmachern. IST ES DAS, WAS WIR UNS KURZ VOR DEM GRABSTEIN AUSMALEN?

Ein rankschlankes In-die-Grube-Sinken? UND TRAMPLÄTZE SPORTLICH FÜR SCHÜLER ­FREIHALTEN, DIE SICH GESTRESST VON ALL DEN SMS AUF DEN SITZEN FLÄZEN?

Früher hat man in der kleinen Hausapotheke lesen können: Wenn dir mal die Hüfte knallt, wirst du nicht mehr ganz so alt … Und als die Omi auf dem Glatteis ausrutschte, sammelten wir schon mal für einen schönen Kranz.

ABER HEUTE?

Da werden die Hüften einfach ausgetauscht wie im Harem die Frauen. Dazu drei Hüpfer ­Rehabilitationssport. Und die Omi ist praktisch wieder wie neu.

Mir fehlt in unserer Gesellschaft die Würde zum Altern. Und fürs Alter. Jeder rennt bis zum letzten Atemzug in seinen Nikes herum. Alles schwitzt sich tropfend das Üble vom Ranzen. Und täglich ist Sportstag. So. In der Schule gabs so etwas wenigstens nur einmal im Jahr. Und ­darüber wollte ich ja berichten…

Der Sportstag wurde anständigerweise zumindest so lange vorher angekündigt, dass man sich noch einen Dispens oder ein ärztliches Zeugnis besorgen konnte. Mein Dispens stand allerdings auf schwachen Füssen: Diese waren nämlich platt. ES WAREN FÜSSE, DIE DER LIEBE GOTT NICHT ZUM RENNEN GESCHAFFEN HATTE.

Vor allem hat der HERR sie nicht dazu entworfen, dass sie einmal über ein künstliches Pferd hüpfen sollten. Ich hasste Pferdehüpfen. DIESES BRAUNE HARTLEDERUNGETÜM AUF DEN VIER STAHLBEINEN WAR DAS EINZIGE UNÜBERWINDBARE HINDERNIS IN MEINEM JUNGEN LEBEN. Ich bockte davor wie der Teufel vor dem Weihwassergeschirr.

Einmal, als die ganze Klasse ihre grösste Sportspfeife anfeuerte und unsereins, so getragen vom gutem Willen aller, Anlauf nahm, da klatschte ich direkt an den Pferdebauch. Nur ein Mann weiss, was die Floskel «Das geht mir zünftig an den Sack» wirklich bedeuten kann. SEIT JENEM AUFPRALL WEISS ICH ES AUCH.

Der Sportstag bestand aus verschiedenen Disziplinen. Der Beste jedes Jahrgangs wurde mit einem Buch belohnt. Die beste Klasse bekam einen Wanderpokal. Es war ein trompetengoldiges Gefäss, auf dessen Deckel ein nackter, muskulöser Mann den Speer warf.

NA JA. ICH UNTERSUCHTE DEN NACKTEN. UND WUSSTE: DER MUSSTE ES NICHT SEIN!

Heutige Generationen würden den Kübel als «krass uncool» abtun. Aber zu jener Zeit waren alle scharf darauf. Und jede Klasse wollte diesen verknöcherten Nackedei ein Jahr lang im Klassenzimmer abstauben.

Klar, dass ich es war, der den Schatten über das Glück warf: Die Leistungen der Schüler wurden nämlich addiert. Die Durchschnittssumme ergab das Ganze. Die beste und die schlechteste Benotung wurden gestrichen. Jetzt dürft ihr ahnen, wer bei uns immer das Streichresultat war.

O. k. Ich gab mir wirklich Mühe. Ich wusste, wie viel unserer Klasse an dem Kotzprotzkübel lag. Es war ein Rudel von Sportbegeisterten – ausser Daniel und ich.

Daniel hatte schon damals vierfaches Über­gewicht. Für Sumo-Ringen wäre er ideal gewesen. Aber das hatten sie nicht auf dem Programm. Und mit Daniel waren keine 100-Meter-Läufe zu gewinnen.

UM ES KNAPP ZU SAGEN: DANIEL UND ICH TEILTEN UNS DIE STREICHNOTEN. SCHON FRÜH HAFTETE AN UNS DER SPOTTNAME: DIE STRICHER. «Wenn ihr euch nicht die Kutteln zur Fresse rauskotzt, hobeln wir beide flach!» – Das war «Joint-Mulle», unser Klassenchef. Immer für eine kleine Cannabis-Runde gut – aber wenns um Literatur ging, hielt er Droste-Hülshoff für einen Deo-Stift.

Meine schwächste und dennoch erfolgreichste Disziplin war das Ballwerfen. Schüler aller ­Klassen schauten auf dem Einsatzplan, wann ich an der Reihe war. Dann standen sie hinter mir. Schrien: «Hoooo… hooooo… hopppala!»

So viel Spott hemmt jeden grossen Wurf. Jedenfalls waren es im besten Fall 2,99 Meter. Unsere Klasse stöhnte auf: «Streichresultat!» Denn immerhin hatte es Sumo-Daniel auf 3 Meter 12 gebracht.

Wir haben jedenfalls den Pokal nie abgeräumt. Dabei war der Platz im Klassenzimmer, auf dem die Trophäe stehen sollte, bereits vorbestimmt. Noch grinste da ein präpariertes Eichhörnchen aus der Familie der Nagetiere auf dem kleinen Podest als Ersatz – aber man würde den Stopf­nager für das Glorreiche der Klasse opfern.

Nun denn – der Allmächtige hat dafür gesorgt, dass das Nagehörnchen bis zur Matur auf seinem gewohnten Platz verstauben durfte. Die Klasse aber strafte Daniel und mich mit so unverhohlener Verachtung, als hätten wir das Synchronschwimmen erfunden.

Wenn wir uns heute mal zu einer Klassenzusammenkunft treffen, ist der Pokal kaum mehr ein Thema. Daniel erscheint meistens im hautengen Velo-Anzug, weil er vom Neuenburgersee bis Basel hergeradelt ist. Er ist das, was man eine Spät-Öko-Trine nennt, derweil «Joint-Mulle» als Betriebspsychologe all das nachholt, was er seinerzeit im Schulzimmer als Klassenchef ­verpasst hat.

Jeder erzählt von seinem Leben. Und gibt an, wie er die Karriereleiter raufgeklettert ist.

Alle schauen nun fragend zum Weichei.

«Ich schreibe…»

Mehr kann ich nicht sagen. Denn zum Pokal hats auch hier nie gereicht. Die andern gucken peinlich berührt weg. Sie denken alle:

EINMAL STREICHRESULTAT, IMMER STREICH­RESULTAT!

Dienstag, 15. September 2015