Dialektik

Hubert raschelte energisch mit der Zeitung. «Hildi.» «HILDI!» Keine Antwort.

Dann: «HILDEGARD!»

Man hörte das Klappern von Tellern. Schliesslich hagelte es gereizte Schimpfwörter, die Hubert jedoch nicht vernehmen kann. Die Wellen seines Hörapparates reichen nicht bis in die Küche.

Besser so.

Hildi baut sich nun mit funkelnden Augen beim Esstisch auf: «WAS SCHREIST DU SO HERUM – WAS IST LOS?!» Stille.

Dann vorwurfsvoll: «Es hat keine Aprikosen­konfitüre mehr...». MITTELSCHWERE KRISE.

Wortreiche Ausbrüche hildiseits.

Und Hubert schaltet seine Lauscher sofort auf ­«leisen Empfang».

Immerhin kann er Bruchstücke wie: «...mistiger Macho... deinen Arsch selber in Richtung Küche bewegen...» erahnen.

Weil er jedoch merkt, dass Matthäi am Letzten ist, reisst er thematisch das Steuer herum. Und wedelt mit der Zeitungsseite: «Hast du es gelesen?»

«W a s gelesen?!»

«Das mit dem Dialekt. Eine Studie aus Zürich sagt, dass...» HILDI SPULT GLEICH WIEDER AUF 100: «Jetzt komm mir nicht mit diesem alten Mist. Alle ­Zeitungen waren voll davon. Hat diese Welt keine andern Probleme, als die Frage, wer dem andern am schönsten daherredet...?»

Hubert schweigt pikiert. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass der Dialekt eine grosse Sache ist. Zumindest in diesem kleinen Land.

Als er vor mehr als 40 Jahren seiner Hildegard eröffnete, er habe sie «schüüli gere», ging diese nicht schluchzend vor Glück auf die Knie. ­Sondern sie bekam einen Lachanfall: «ES GIBT NICHTS UNROMANTISCHERES ALS EINE ­LIEBESERKLÄRUNG IM THURGAUISCHEN MOSTDIALEKT!»

Hubert hatte gekränkt geschwiegen. Und dann doch mutig gekontert : «Also eure spitzen Basler ‹i› und ‹ä› sind auch nicht dazu geschaffen, eine rosige Stimmung zu schaffen!»

Sie hatten ein bisschen hin und her gezankt. Und sich schliesslich im Bernerdialekt als harmonische Lösung wieder gefunden: «... der hat einfach etwas Gemütliches, Melodisches, Wunder­schönes!» Dann war Friede. Und Hildi blinzelte Hubert an: «Jetzt derfsch mer e Schmitzli gee...»

Sie spitzte den Mund.

Und nur so hatte Hubert kapiert, was eigentlich gemeint war.

Beide genossen sie künftig Heinrich Gretler in «Best of Heimatfilm» und «Aeschbacher» am ­Donnerstagabend – der Dialekt dieser zwei ­Bernerseelen war so herrlich weich wie eine frischgebackene «Züpfe» – da waren Hildi wie Hubert sich einig. Sie konnten sich auch darauf einigen, dass der Zürcherdialekt nicht mehr war als das Auskratzen von eingedicktem Schlamm in einem Ablaufrohr. Dieser Dialekt hatte den Charme eines Ice Crusher.

UND DANN DIE ERNÜCHTERUNG!

Eine Studie, die von der Eidgenossenschaft finanziert wurde und 71 Leute befragt hatte, kam zum Schluss: Das Zürcher «Kchüssli» gefällt besser als das Berner «Mündschi».

«Ich will nichts mehr davon hören...», ereiferte sich Hildi nun. «Solche Studien kann jeder nach seiner Façon manipulieren lassen und...»

«Eben!» – zeigte Hubert nun auf die Zeitungsspalte, «hier steht, dass eine brandneue Studie aufzeigt, die Basler Hausfrauen seien die tüchtigsten schweizweit, wenn es darum geht, ihren Ehemännern Aprikosenkonfitüre zu servieren...»

Pause. Hildi schaute ihrem Mann in die Augen. Und die hatten dieses Funkeln und Grinsen, wie sie – laut einer Studie von 1999 – nur die Thurgauer Mostäpfel hervorbringen.

«Ach Hubsi...», lachte Hildegard, «du und dein ­Ostschweizer Humor!»

Sie strich ihrem Mann über den Kopf.

Nahm das leere Konfitürengeschirr.

Und rief aus der Küche: «Bei uns heissen Aprikosen übrigens ‹Barelleli›...»

Montag, 14. September 2015