Von einer kleinkindernagelgrossen Schachtel und Erstzähnen…

Illustration: Rebekka Heeb

Mein erster Zahn kam in die rosa Schachtel. Nun ja – das war so eine Mini-Box, in der mein guter Vater meiner Mutter Schmuck geschenkt hat. Mit einem Trämlerlohn lag nicht viel drin – sowohl in der Schachtel. Als auch so.

Hier wars ein Kleeblatt-Anhänger. Das Schmuckstück war kaum kleinkinderfingernagelgross (WAS FÜR EIN RIESIGES WORT FÜR EINE WINZIGE SACHE – ES KÖNNTE FÜR POLITISCHEN GEIST STEHEN!). Und es war auf hauchzarter Watte in der Farbe eines Pink Panthers gebettet.

Meine Mutter, die es eher mit knalligen Klunkern und diesen schrecklichen Halsbändern, die das Gegenüber unwillkürlich auf schmucke Art alarmierte, hier kommt eine 18-karätige Sado-Maso-Idee – meine Mutter wartete also nicht auf Papas Banküberfall. Sie kaufte sich ihren Schmuck selber. Bediente mit einem Briller, so gross wie ein Taubenei im Laden meiner Tante die Aufschnittmaschine. Und legte dann, wenn sie die Schinkenscheibchen im fleischfarbigen Fettpapier auf die Waage gab, auch gleich noch unauffällig den Klunker dazu: «Das macht jedes Mal 30 Gramm, Trude! Jetzt kannst du selber ausrechnen, wieviel Knete ich dir bei 100-mal Schinken mit dem Ring reinhole!»

Ihre Idee war: Man darf beim Klotzen nie Sparen – es macht sich immer bezahlt. Diese Haltung demonstrierte allerdings die Philosophie einer Weltfremden, die auf ein eigenes Konto zugreifen konnte. Und dennoch das kleinkinderfingernagelgrosse (schon wieder!) Kleeblatt meines Vaters am Hals trug. SO ETWAS WAR GLÜCK. UND LIEBE. UND IN DER SCHACHTEL ALSO: MEIN ERSTER SCHAUFELZAHN! Später hat die gute Mutti dann auch noch einen gefundenen Vorderhauer unseres Dackelhunds dazu gelegt. Das war aber bereits zu jener Zeit, als ich von meinen Schaufeln das Lippenstift-Rot mit dem Zeigefinger wegrieb …

Im grossen Ganzen wurde in meiner Kindheit um Zähne nicht so ein Hallo gemacht wie heute. Sie waren einfach da. Fielen aus. Oder wurden – wie in meinem ersten Schaufel-Fall – im Wackelzustand an einen Faden gebunden. Das andere Fadenende kam um den Griff der Stubentüre. DANN TÜRENKNALLEN. Und Jubel, wenn der Zahn am Faden baumelte.

In die Schule kam eine Zahnputztante, die an farbenfrohen Bildtafeln und einer Zahnbürste so gross wie ein Giraffenhals demonstrierte, wie Beisser frisch gehalten werden mussten. Uns interessierten weniger die luftigen Kreisbewegungen, die sie am Plakat vorführte als die Riesenbürste. WO GABS SO ETWAS ZU KAUFEN?! WÄRE DAS NICHT ETWAS FÜR DIE GIFTSCHNAUZE UNSERER LIEBEN GROSSMUTTER, DIE IMMER SO SCHRILL ÜBER DIE TRÄMLERSFAMILIE HERFIEL. Ich glaube nicht, dass in jener zuckerüppigen Zeit Karies ein Thema war. Vielleicht in einschlägigen Kreisen wie Zahnarztfamilien … Quäkern … oder bei Diabetes-Fällen. WIR JEDENFALLS LIESSEN ES PUNKTO KARAMELLEN, TIKIWÜRFELN UND COLA-FRÖSCHEN KRACHEN! Niemand hielt uns auf. Alle zuckerten uns voll. Wir erlebten die Aufholjahre nach dem Krieg. Damals solls nur ein einziges Kaffeelöffelchen voll Zucker gegeben haben. Pro Kopf. PRO MONAT! UND WAS FÜR EINE BITTERE ZEIT. Kein Wunder, dass Filme und Schlager jener Nachholjahre so überzuckert sind, dass man sich auch heute noch nach deren Genuss Insulin spritzen muss.

Natürlich hat man uns vor dem Zubettgehen nachgerufen: «Hast du die Zähne geputzt?!»

«Jajaaa!»

O. K. Wir haben diese Lüge später bitter gebüsst. Und zwar in der Schulzahnklinik. Die Schulzahnklinik war der Horror-Film von damals. Die Eltern wurden schriftlich aufgefordert, den Jungen zur Kontrolle zu schicken. An einem Schalter bekam das Kind eine Nummer. Und schliesslich wurde diese Nummer in einen dunklen Stock gerufen. Dort sassen alle Kinder käsebleich auf einer Holzbank. Sie warteten, dass sich die Türe zur Bohrfabrik öffnete. Und eine Stimme rief: «Nummer 69!»

Auf den schwarzen Marterstühlen lagen Gummikissen, weil viele der Patienten sich in die Hose machten. Das schrille Pfeifen der Bohrer, das Jaulen der Malträtierten, dieser seltsame Duft nach Chemie und Medizin, die irgendwie irgendwo irgendwas abtöten sollten – JA BEI SO ETWAS KONNTE KEINE FREUDE AUFKOMMEN! ABER HALLO – DOKTOR MABUSE LIESS BITTEN! Keiner kann das Glücksgefühl beschreiben, wenn der Bohronkel einem auf die Schenkel klopfte: «So. Überstanden. Und putze dir immer gründlich die Zähne. Keine Zuckerstangen mehr!»

«Jawohl, lieber Onkel!», knicksten wir verlogen. UND HOLTEN UNS BEIM NÄCHSTEN KIOSK DIE TAPFERKEITSMEDAILLE IN FORM VON COLAFRÖSCHEN UND ZUCKERERDBEEREN AN DEREN GRÜNEM DRAHTSTIEL KLEINKINDERFINGERNAGELGROSSE (!) GLASRINGLEIN ­FUNKELTEN.

Es war damals nicht ganz so schlimm, wenn einem auch die Zweitzähne ausfielen. Es gab Brücken… es gab Prothesen, auch «Gebisse» genannt … und es gab wunderbare Geschichten um letztere, etwa die, wie die Köchin meiner Grossmutter an deren Hochzeit den Kartoffelstockberg mit ihrem Gebiss glatt gerieben habe.

JA BITTE – DAS WAREN NOCH SCHENKELKLOPFER MIT BISS!

Mit den Jahren wurden alle Löcher mit Amalgan gestopft. Neuerdings wird so etwas wieder rausgebohrt. Amalgan ist des Teufels. Und wenn sie einen älteren Menschen heute mit makellosem Gebiss lächeln sehen, so ist es entweder die moderne Porzellan-Füllung oder er kann damit den Kartoffelstock flach reiben.

Der Karamellen-Mann, vor dem man uns immer gewarnt hat (aber nicht wegen der Karies!), schaut schon lange in den Mond – «Danke. Wir mögen keine Bonbons!» Die Kindheit von heute ist zuckerfrei. Ohne Loch und Aber. Dazu mit Zähnen so regelmässig wie Militär- patrouillen. O. K. Die neue Generation ist in diesem Punkt zu beneiden. Aber irgendwie ist es auch traurig, in seinem Leben nie einen Cola-Frosch geküsst zu haben…

Dienstag, 8. September 2015