Tante Gertrude hatte Geld. Viel Geld. Sie war jedoch nicht deswegen meine Lieblingstante. SIE HATTE AUCH EIN GESCHÄFT. EINE GESCHÄFTIGE TANTE ALSO.
Das Schönste: In ihrem Lädeli gabs ganze Töpfe mit Schleckstängeln, Zuckererdbeeren und Bazooka-Kaugummistangen – die, mit denen man so herrliche rosa Blasen blasen konnte. ES WAR DER ANFANG EINER ROSIGEN BLASEZEIT.
Nun hätte meine Tante eigentlich nicht dem Geld nachjagen müssen. Ihr Ehemann – Kurzfassung: Er war mein Patenonkel und hatte mir zum fünften Geburtstag ein Sparbuch mit 50 Franken auf der Kantonalbank eröffnet. Dann wurde er von einer Autofahrerin wegrasiert. Frontal-Crash. Pate tot. Tante in Schwarz – Kurzstory beendet –, mein Pate also hatte so ziemlich happig Geld auf der hohen Kante. Was ihm auch nichts mehr nutzte. Denn nun war die Tante dran. Tante Gertrude jedoch saugte sich nicht einfach an den Honigsack. Sie erfüllte ihren Kindertraum. Und klopfte eines Tages bei ihrer Lieblingsschwester an: «Lotti – ich habe einen Quartierladen gesehen. Man kann ihn kaufen. Machst du mit?»
Man schnallt es: Tante Gertrude hatte schon als kleines Mädchen gerne «Guten Tag, Frau Meier – was darfs denn sein? Wir haben frisch-warmen Fleischkäse…» gespielt.
Nun. Das war nicht die Tonart meiner Mutter. Die sah sich weniger im dienenden Sektor. Sondern als Politikerin, welcher diesen «Lahmärschen links aussen» mal die Eier schleifen wollte.
Nun gut. Das war nicht der O-Ton. Aber so ungefähr. Jedenfalls – so hat mir Tante Gertrude immer wieder erzählt – habe sich Mutter als Kind das lange Kleid meiner Oma geschnappt. Dazu die hohen Schuhe. Das Nudelholz war ihr Zepter – und so regierte sie über die Geschwister.
Später wurden die Geschwister nahtlos durch meinen Vater und das schöne Kind ersetzt. Das Nudelholz war jetzt ihr sattes Portemonnaie – es war ein hysterischer Schicksalszug, dass in unserer Familie stets nur Weiber die Knete hatten. UND SOMIT DIE MACHT, DEN MÄNNERN DIE EIER ZU SCHLEIFEN (siehe oben).
Meine Mutter liebte ihre Schwester. Also investierte sie ins «Lädeli-Projekt», wie die Sache in der Familie herumgeboten wurde. Mein Vater wurde mit «es hat einen grossartig bestückten Weinkeller!» geködert.
Und so erlebte das Lädeli Anfang der 50er-Jahre seine Vernissage. Natürlich wurde das Kind nicht gefragt. Es hätte auch kaum antworten können – es sass nämlich im Magazin (so nannte man das Lager-Zimmer hinter dem Sack-Vorhang). Und leerte schon mal die erste Kiste mit Tiki-Sprudelwürfeln.
Später hat man die rund 30 Jahre, welche Tante Gertrude ihr Geschäft führte, die «Lädeli-Epoche» genannt. Es gab das Leben davor. Und das Leben danach. Doch wehe, wenn ein Familienmitglied während der Lädeli-Epoche nicht bei meiner Tante, sondern in diesen «neumodischen Allerweltsschuppen von Herrn Duttweiler» einkaufte – EIN SOLCHER NAME WURDE IM TESTAMENT GESTRICHEN! Coop galt als sozialistisches Teufelsland. Und nach Deutschland ging eh kein Mensch. Da spukte noch viele Nachkriegsjahre der unselige Adolf rum. Wer etwas auf sich hielt, setzte auf die Lila-Liga-Lädeli-Marke.
Gertrude also liess bei ihrem Nachbarn, dem Papierhändler Eduard Humbel, Papiersäcke drucken, auf denen in geschwungenen Lettern:
TRUDY GYSIN SPEZEREIEN stand. Niemand wusste so recht, was mit Spezereien gemeint war. Sicher aber ist, dass ich die verschiedenen Tüten mit Reis, Zucker, Kartoffeln und vielem mehr abfüllen musste. Es gab eine grosse Waage. Wenn die Sache über zwei Kilo wog, musste man einen Spezial-Hebel drücken, um das genaue Gewicht bestimmen zu können.
Doch «über zwei Kilo» kam nur bei Kartoffeln vor. Die waren zu jener Zeit noch ungewaschen. Erdig. Und machten raue Hände.
ICH HASSTE KARTOFFELN-ABWÄGEN. Auch wenn die Tante mir danach einen Extra-Bonus und die Fingerchen mit Glyzerinsalbe rieb. (Tante Gertrude war die Erste, die kapierte, dass die zarten Hände ihres wunderschönen Neffen irgendwie anders waren. Jedenfalls war sie es, die mir zum zehnten Geburtstag ein Nagellackset schenkte. Mein Vater: eine Bähnler-Uniform mit Knipszange. Nichts hinzuzufügen!)
Tante Gertrude versuchte dem Wort «Spezereien» dann gerecht zu werden. Sie sah darin nicht etwa den lateinischen Ursprung der «species», also der Gewürze (das schreibe ich hier nur, um einmal klar und deutlich diesen bornierten intellektuellen Armleuchtern zu zeigen: Auch unsereins hat eine latent lateinische Vergangenheit!) – also Tante Gertrude hatte es weniger mit den Gewürzen, sondern sie sah im Wort «Spezerei» das Spezielle. Und kaufte auch so ein: Fleischkäse von Metzgermeister Schnyder (dem Grossvater der spätern Tennisspielerin Patty – aber das ahnte ja noch niemand. Und sein Fleischkäse war besser als Pattys bester Schlag …), Salami aus Mailand, Gorgonzola aus Modena, Rohschinken von den Serrano-Eichelschweinen aus Spanien – sie war mit allen Händlern auf Du und Du. Ja, es machte ihr Spass, mit ihrem froschigen Citroen in den Nachbarländern herumzukurven. Und überall «das Beste für unsern Bauch» einzukaufen.
Für die Weine war meine Mutter zuständig. Sie hatte die Nase und den Schluck dazu. Jedenfalls war die Sache bald einmal im ganzen Quartier bekannt – und während sich die noblen Herrschaften den Weinkeller zeigen liessen, kauften vorwiegend Italiener und Spanier die Spezereien von Tante Gertrude. Die Gastarbeiter waren glücklich, dass sie den Schweizer Sugo nicht mehr in Tante Maggis Pulverbeuteln kaufen mussten – sondern, dass da eine junge, schöne Frau tatsächlich richtige Sanmarzani-Tomätchen vom Süden des Stiefels in Harassen und den ersten Basilikum in üppigen Sträussen feilbot.
Natürlich konnte meine Tante nicht mit den Preisen der ersten Supercenters konkurrieren. Aber ihr Wort zum Tag war in rabattmarkenblauen Lettern über der Kasse aufgepinnt: «Ein guter Geschmack ist stets etwas teurer…»
Immer wieder sang meine Tante das Halleluja auf die Gastarbeiter: «Ohne Italiener und Spanier hätten wir vermutlich schliessen können – die fragten beim Essen nie nach dem Preis. Sondern nur nach der Qualität! VON DENEN HABEN DIE SCHWEIZER DOCH ERST GELERNT, WAS ESSEN SEIN KANN.»
Als das dritte Migros-Center und die vierte Coop-Filiale in der nächsten Umgebung eröffnet wurden, als da die Kundschaft mit abgewandtem Kopf und riesigen Säcken vom Supermarkt an unserm Schaufenster vorbeigingen, hatte Tante Gertrude genug: «Zeit aufzuhören, Lotti», sagte sie meiner Mutter.
Diese rief meinen Freund Innocent an: «Wir haben einen Weinkeller zu verkaufen – nur falls du Lust hast …» LUST? Da hätte sie auch einer Fliege den Kuhmist servieren können.
Als Tante Gertrude «s Lädeli» schloss, nahm sie meine Mutter in die Arme. Sie weinten beide.
Heute werde ich hin und wieder von jemandem Betagten auf der Strasse angehalten: «Lebt Ihre Tante noch? Sie hatte den besten Coppa in der Stadt … ich glaube, er kam aus Kalabrien und…» SAGEN SIE SO ETWAS MAL ZU EINEM STERIL VERSCHWEISSTEN SCHINKENPÄCKCHEN IM SUPERCENTER-REGAL.