Schöner Max

Sie blätterten im Album.

Es waren eingeklebte Erinnerungen.

Madeleine streichelte mit ihren feinen Fingern über ein gepresstes Edelweiss.

Auf dem Foto daneben posierte Max vor einem Fels. Wanderhose. Rote Socken. Und sein Sonnenlachen.

«Schöner Max» – lächelte Madeleine. Und strich über das Foto.

Das mit der Wanderung und dem Edelweiss, das er ihr aus einem Büschel Gras im Fels gezupft hatte,war lange her. Madeleine war damals eben vierzig geworden. Er knapp über 20.

«Der wird dir bald abzwitschern», hatten die Freundinnen geneidet, als Max sie zum Altar brachte. «Nicht umsonst ruft ihm jede ‹schöner Max!› zu.»

Madeleine hatte nur gelächelt. Sie spürte, dass er sie liebte. Und das Alter in dieser Liebe keine Rolle spielte…

«Warte nur bis er vierzig ist. Und du sechzig», warnten die Leute später, «kein schöner Mann will eine alte Frau neben sich…»

«Max schon», hatte sie verträumt gelächelt.

Natürlich hatte sie am Anfang auch gezweifelt. Aber Max hatte ihr gleich zu Beginn erklärt, er könne mit jungen Frauen nichts anfangen. Er liebe ihr Lächeln …

Sie hatte ihn umarmt, «schöner Max». Und wollte es glauben.

Wider Erwarten wurde es eine glückliche Ehe. Wenn ein Hotelportier die beiden begrüsste:

«… für ihren Sohn haben wir einen Fitness-Raum», lachte sie nur: «Es ist mein Mann.»

Und: «Ohhhh!» war die Antwort.

Sie war bereits Mitte 60 als die ersten Anzeichen auftraten. Madeleine wusste die Namen ihrer Nichten nicht mehr. Sie vergass beim Metzger, was sie eigentlich hatte einkaufen wollen.

Und sie stand ratlos vor dem Geschirrspüler:

«Wie funktioniert so etwas …?»

Max ging zur Beratung. Man riet zur Abklärung. Und stellte diese Krankheit fest, die – wie die Ärztin sagte – «…ein Teil unserer Zeit ist. Wir werden älter. Da gibt es verschiedene Formen von Demenz. Bei den einen tritt Alzheimer schon früh auf…»

Sie nahm ängstlich seine Hand: «Du bleibst doch bei mir…?»

Er konnte kaum sprechen. Aber: «… ich liebe dich und dein Lächeln, das weisst du!»

Schlimm wurde es, als sie Max nicht mehr erkannte.

«Guten Tag, was wollen Sie, schöner Mann …?», winkte Madeleine aus dem Sessel. Sie war jetzt 72. Und er umarmte sie, damit sie seine roten Augen nicht sah.

Er flüchtete mit ihr in die Vergangenheit. Holte das Fotobuch hervor. Und blätterte immer wieder ihr gemeinsames Leben durch.

Sie zeigte so etwas wie ein höfliches Interesse. Nur wenn das vertrocknete Edelweiss auftauchte, streichelte sie die Blume. «Schöner Max», sagte sie dann. Und da war wieder ihr schönes Lächeln.

Die Alzheimervereinigung half über die schweren Jahre. Man empfahl ihm den Besuch in einer Angehörigengruppe. Und hier spürte er erstmals, dass er mit seinen Tränen nicht alleine war.

Madeleine brauchte immer mehr Pflege. Er schaffte es nicht mehr. Sie drängten ihn, die nun 78-Jährige in ein Heim zu geben.

Er sah sich als Verlierer, als er die Anmeldung unterschrieb.

Zu Hause wartete Madeleine. Sie hatte das Fotobuch aufgeschlagen. Und streckte ihm die Arme entgegen: «Hallo schöner Max.»

Sie hatte ihn erkannt – er umarmte sie stürmisch.

Als er Madeleine losliess, sank sie in sich zusammen. Es war ein schöner Tod.

Auf ihrem Gesicht stand das Lächeln, das er an ihr geliebt hatte.

In ihrer Hand hielt sie das Edelweiss.

Montag, 17. August 2015