Totentrompeten

Fanny Balzli jubelte: «Hiiiier!»

Ihre Stimme schallerte wie ein falsch gestimmtes Waldhorn durch die Bäume. Hugo bückte sich. Und schaute zuerst etwas verunsichert auf die kleinen schwarzen Pilze, die fröhlich im Moos steckten. Dann zu Fanny: «Kennst du die?»

Jetzt lachte sie fröhlich die Tonleiter rauf und runter: «TOTENTROMPETEN. Auch Toten- Trichterlinge genannt…»

Sven und Tom jagten Blicke himmelwärts. Die Jungen wären lieber daheim vor dem Laptop gehockt. Aber nein – wenn Mutti sich einen Pilzsonntag in den Kopf gesetzt hatte, war sie Beton: «Ihr kommt mit – man kann immer etwas lernen!»

Entsprechend holte Fanny aus: «Die Totentrompete hat ihren Namen wegen der trichterartigen Form. Natürlich auch wegen der grauschwarzen Trauerfarbe und…»

«Kann man jemanden damit ins Jenseits schicken?» – Sven liebte die Killertour.

Wieder perliges Lachen: «Es ist einer der köstlichsten Speisepilze überhaupt…»

Fanny zückte das Messerchen. Und gab die Ernte zum Korb. Es hatte sich hier so allerlei Pilziges zusammengetan: «Das gibt ein köstliches Risotto, ihr Fressmolche…» Sven knurrte: «Mir wäre etwas zum Trinken lieber…»

Fanny strahlte. Sie hatte an alles gedacht: «Frischer Eisenkraut-Tee vom Garten. Auch Verveine genannt. Heute Morgen gebraut. Und…»

«HATS KEINE COLA?»

Jetzt wurde Mutti aber stinkig: «Du spinnst doch. Ich gebe sicher kein Geld für Cola aus, wenn im Garten Tee gratis wächst…»

«Ist ja recht, Mutti», versuchte Hugo die Familie wieder harmonisch einzukriegen.

Die Flasche ging herum.

«Schmeckt bitter…», nörgelte Sven.

«Pfeife!», knurrte Mutti.

Eine Stunde später putzte Fanny die Pilze, während die Buben vor ihren Laptops dampften. Sie beantworteten die Chat-Fragen vom Cyber-Planeten: «Hi! – Du da?»

Das Risotto schmeckte allen. Es wurden die üblichen Witze von der Pilzvergiftung gemacht. Dann wurde zum 100. Mal die Geschichte von der Familie erzählt, welche der Katze den Rest eines Pilzgerichts serviert habe. Die Mieze warf sich daraufhin plötzlich jaulend hin und her. Und die Familie jagte in Panik ins Spital: Magen auspumpen!

Daheim waren dann drei frisch geborene Kätzchen. Und eine erschöpfte Miezenmutter…

Fanny lachte wieder perlend rauf und runter. Sie war die Einzige, die lachte.

Es war eine Stunde später, als es Sven schlecht wurde. Und er über der Schüssel hing.

Es folgte Tom. Und Hugo hatte Schweissausbruch. Nur Fanny blieb tapfer – aber auch ihr schwankte der Boden: «Vielleicht war doch einer der Pilze…»

«VERDAMMTE SCHEISSE!» – brüllte Hugo. So ein Ausbruch war atypisch für ihn.

Dann jagten die Balzlis in die Notfall-Station: «Alle vier Magen auspumpen!»

Stunden später sass die Familie grau wie Totentrompeten im Besprechungszimmer des Bezirksspitals. Der Arzt erschien. Und schaute vorwurfsvoll: «Das war ja ziemlich knapp, Herrschaften! Blüht bei Ihnen irgendwo Fingerhut? Roter. Die sogenannte Digitalis purpurea…?»

«Ja», flüsterte Fanny, «dieses Jahr besonders schön … – gleich neben dem Eisenkraut…»

«Aha», sagte der Arzt. «Haben also S i e den Tee gebraut. Und mit Fingerhutblättern zubereitet?»

«Mutti!», tobte Hugo.

«Mutti!», brüllten die Buben.

Und Mutti weinte: «… Es kann schon sein, dass ich da ein paar Blätter verwechselt habe. Immer dieser Stress. Alles bleibt an mir hängen. Und…»

BIS AUF WEITERES GABS KEINE PILZ­SONNTAGE MEHR.

Und beim Cyber-Planeten hiess es auf die Frage: «Hi! – Du da?»

«Hi! Fast nicht mehr…»

Montag, 3. August 2015