«Dieb!» – meine Grossmutter zischte es mir wie eisigen Wind um die Ohren.
«Dieb! Dieb!»
Wir waren eh keine guten Freunde. Immer hatte sie an mir rumzumeckern. So wie an meinem Vater auch.
Sie war nicht die Bilderbuchoma. Und ich war nicht ihr Bilderbuchenkel, der mal eine Militärkarriere machen sollte. Und ihr Geld erben würde.
«Dieb! Dieb!» – sie konnte sich gar nicht mehr einkriegen, diese fiese Dreckschleuder!
Okay. Ich weiss, dass man seine Grossmutter nicht «Dreckschleuder!» rufen sollte. Aber heute habe ich Distanz zu jener Tat. Und ich kann jeden Buchstaben unterstreichen: DRECKSCHLEUDER!
Ich war gerade mal acht. Ein schönes Kind. Brav. Folgsam. Und wie ein Museumsparkett auf Hochglanz geputzt.
DIE ALTEN KONNTEN NICHT MECKERN.
Gut – mein Gang war vielleicht etwas zu tuntig. Meine Bewegungen etwas zu lasziv. Und sicherlich war es für meine lieben Eltern auch nicht einfach, als sie sehen mussten, dass ich mein Sackgeld in einen Lippenstift investiert hatte.
ABER ANSONSTEN: NULL PROBLEM.
Ich meine: kein Haschisch im Haus. Und kein K.-o.-Saufen mit den Kindergartenfreunden.
Allerdings – ich konnte schon damals nicht mit Geld umgehen. Während Rosie – meine Lieblingsfreundin, die ich als Ersatzschwester adoptierte – genauso wenig Sackgeld auf die Kralle bekam wie ich, war sie Ende Monat noch immer für einen Zwanziger gut. Ich aber war bankrott und pumpte sie an. Kurz: Ich war ein Verschwender, dem der Galgen drohte.
«Das hast du von deinem Onkel Sepp!» – wurde mir die düstere Vergangenheit der noblen Familienseite immer wieder aufgewärmt.
Onkel Sepp war Omas Bruder. Und weil er der einzige männliche Nachkomme in jener Sippe war, wurde er von seiner Mutter (meiner Urahne) so ziemlich verbäppelt. Na ja – jedenfalls muss Sepp eine starke Nummer abgezogen haben. Er arbeitete nichts. Melkte die Uromi ab. Und steckte Zigarren mit Hunderternoten an.
«Hunderternoten!», zischte die Grossmutter jeweils am Bäumchen, wenn sie die ganze Familie an den Kugeln hatte. Sie liess ihre ganz persönliche Weihnachtsgeschichte ab: «Ihr müsst euch so was mal vorstellen … es war einfach nur ekelhaft. Er durfte sich alles erlauben – nur weil er ein Bub war. Wir Mädchen aber mussten im Geschäft malochen – der Sepp jedoch spielte den Prinzen!»
Die Sache wurde schlimmer, als meine Urmuhme, also die Mutter der Grossmutter, ihr Geld genussvoller investierte. Und sich einen Galan nahm.
Der Mann war etwas jünger als ihr Sohn Sepp. Und warf Letzteren einfach aus dem Haus: «Schmarotzer!» – riefen beide einander zu. Und wo sie recht hatte, hatte sie recht. Künftig bekam Onkel Sepp nichts mehr vom Erbe ab. DAS MIT DEN GELÜSTEN AUF JUNGFLEISCH HÄTTE IHM DIE UROMI ALLERDINGS FRÜHER ANDEUTEN KÖNNEN – so hätte er vielleicht noch etwas Gescheites gelernt. Etwa Kellner. Eintänzer. Oder Coiffeur. Jedenfalls wars jetzt zu spät.
Doch wie kommt so ein Geld-Hallodri blank über die Runden? Ich meine: Natürlich konnte man Zigarren auch mit einem Streichholz anzünden. ABER WIE SAH DAS DENN AUS!?
Jetzt kam das grosse Finale der Sepp-Weihnachtsgeschichte – die Oma glättete zufrieden ihren langen Satinrock: «Eines Tages kam der Aescher Dorfpolizist, der Müller Hansi, in unser Geschäft. Er sah verstört aus. Und ich ahnte sofort: Es ist etwas geschehen …»
Die Oma machte nun eine Kunstpause. Man hörte nur das Knacken der Tannenäste.
«Sie haben ihn eingelocht …», proletete mein Vater auf gut Glück in die Runde.
Die Grossmutter stach ihn mit demselben Blick ab, mit dem sie auch bellende Hunde und schreiende Kinder zum Verstummen brachte: «… er hat sich umgebracht. Mit einem Rasiermesser. Sie fanden ihn im Wartesaal des Bahnhofs Spiez. UND WISST IHR WO? – Natürlich: 1. Klasse!» Sie blickte düster in die Runde: «UND SO ERGEHT ES ALLEN, DIE ÜBER IHRE VERHÄLTNISSE LEBEN UND MIT DEM GELD NICHT UMGEHEN KÖNNEN …»
Halleluja. Amen. Und «O du fröhliche».
«Dieb! Dieb!» – keifte dieselbe Oma nun bereits zum 30. Mal. «Du wirst enden wie dein Onkel Sepp!»
«Es ist genug, Mutter!», mischte sich nun die meine ein.
Dann musste ich mit ihr ins Arbeitszimmer: «Weshalb hast du das getan?»
Ich schniefte. Ich konnte es nicht erklären. Ich hatte die Idee einfach genial gefunden. Ein Supercoup. Und das Resultat war, als hätte ich den Jackpot geknackt.
Also. Meine Tante Gertrude führte ein Lebensmittelgeschäft. Auf gekaufte Waren gabs violette Rabattmarken. Die klebte man in ein Büchlein. War das Büchlein voll – schüttete es Bargeld.
Ich polierte mein Sackgeld als Reis-, Zucker- und Kartoffel-Abfüller im «Lädeli» auf. Das mit den Kartoffeln mochte ich am wenigsten. Man bekam raue Hände davon. Aber der Rest war okay.
Nun lagen da überall diese Rollen mit den blauen Rabattmarken herum. Ich schnappte mir eine. Klebte etwa fünf Büchlein mit Marken voll. Und kaufte mit dem Bargeld am Kiosk Colafrösche, Fünfer-Bollen und Tiki-Limonadenpulver. Dem Verkäufer kamen vor Glück die Tränen. Und mir auch. Als ich etwas übersüsst, aber megahappy daheim eintrudelte, stand die Familie bereits Spalier. Und «Dieb! Dieb» – das war die Muhme, dieses Rabenaas!
Man überliess mich meiner Tante. Sie sollte mir die Strafe aufbrummen. Aber sie nahm mich nur an der Hand. Und lächelte: «Ich vermute, ich habe dich fürs Kartoffelabfüllen nicht gut genug bezahlt. Ich gehe dir mit dem Lohn zehn Rappen pro Stunde rauf – aber klau nie mehr von meinen Markenrollen. Die muss ich nämlich teuer einkaufen!» Ich habe nie wieder geklaut.
Nun gut – mal eine kleine Weinkaraffe, auf der «Café Florian» stand. Und eine vergoldete Gabel in Rom – mit Gravur «Ristorante Alfredo». Aber deswegen schneide ich mir doch nicht gleich die Kehle durch!