Von der Tramfahrt und Eis am Stiel

Illustration: Rebekka Heeb

Die junge Frau schaute mich strafend an. Sie war der klare Körner-Typ.

Vorne flach.

Hinten flach.

Und auf dem Hals ein ­Hirsekorn. «Sie sollten den jungen Menschen ein Vorbild sein. GERADE SIE!»

Kopfschüttelnd drehte Sie den Kopf zur Seite. Und «zzzz» zischte es durch ihre fadendünnen Lippen. «ZZZZ!!!»

Wie Oma Meyer, wenn ich Fingernägel kaute.

Natürlich hatte die Leptosomen-Lady recht. ABER ICH LASSE MIR DOCH NICHT VON ­DIESEM STINKKNOCHEN MEINEN GLACELUTSCHER VERMIESEN.

AUCH NICHT IM TRAM.

Obwohl: Jeder Essgenuss während des Tramfahrens ist verboten. Auch Wiener Schnitzel, Pouletbeine und Eisbergsalat.

Ein Plakat schlägt dir das «NO FOOD!»-Gebot an den Kopf. Und auf den Magen.

IST JA ALLES VERBOTEN IN DIESER WELT.

NUR VELOS DARF MAN AUFS TROTTOIR STELLEN. UND HANDYS DÜDELN LASSEN. UND VERFRESSENE ALTE MENSCHEN PIESACKEN!

Nun dreht sich das Apostelgerippe wieder zu mir: «Falls Sie es nicht geschnallt haben – im Tram ist das Eislutschen untersagt.»

Dann schmierte sie noch einen drauf: «… und ab Grösse 50 sollte so ein Verbot eigentlich auch im ästhetischen Bereich gelten! Was sollen junge Menschen von Ihnen denken?»

Was hat diese fiesmiese Schnorrer-Lady eigentlich immer mit den Jungen?

So viel ich weiss, denken junge Menschen heute nicht viel über gelatolüsterne alte Männer nach. Sie denken überhaupt nicht viel. Sondern sie stieren auf ihre iPhones. Spielen sich einen runter. Oder schicken SMS in der Welt herum:

«DU WO?»

«ICH TRAM.»

«LUST?»

«OK. KÜHL SCHON DIE STANGE!»

Dann knipsen sie ein Smiley hinzu.

Dlingdlong.

Die Antwort kommt sekundenschnell virtuell aus dem Nirwana geschossen: Daumen nach oben.

DA KÜMMERT SICH DOCH KEIN SCHWEIN UM JEMANDEN, DER EIN MAGNUM AM STIEL REINZWITSCHERT.

O.k. – stilvoll ist es nicht. Aber softeis-geil.

Es kam einfach über ich. Wie fast immer im Juli. Und zur Gelato-Zeit.

An der ersten Eisbox ging ich noch eisig-eisern vorbei. Bei der zweiten seufzte ich schon. Bei der dritten und vierten schloss ich die Augen.

Und die fünfte war dann ausgerechnet an der Tramstation. RAPPELVOLL MIT SCHOKOEIS.

MAGNUM.

DAS, WELCHES PRO SCHLECK SO VIEL KALORIEN BRINGT WIE DREI MAGERJOGHURT ZUSAMMEN.

Ich würde der mageren Ziege gerne von ­meinen eisigen Erfahrungen berichten. DIE HAT JA KEINE AHNUNG! In unserm Haushalt gabs ­keinen Kühlkasten. Das lag beim Trämlergehalt des 6er-Fahrten-Piloten einfach nicht drin.

Aber an heissen Sonntagen warf der Trämler einen Zweifränkler in die Luft. Und wir durften mit einer Salatschüssel zu Bäckermeister ­Schneiderhahn über die Strasse.

Frau Schneiderhahn ging in die Backstube. Dort gab es eine der ersten Kühltruhen in unserer Strasse. Sie stach Rundes aus pickelhart Gefrorenem ab. Und füllte die Schüssel damit.

Damals gabs keinen dicken Schokomantel ums Glück. Auch keinen Stiel. Es gab nur diese Hausmacher-Vanille-Erdbeer-Mokka-Kugeln.

Ich balancierte die Schüssel nach Hause. Und überlegte, wie es wohl wäre, wenn ich mich jetzt auf die Parkbank setzen und alles alleine rein­hoovern würde.

DAS WAREN DIE WÜNSCHE DER JUNGEN MENSCHEN JENER ZEIT.

Und davon hat die gute Magerseele hier im Tram keine Ahnung.

Ich musste dann die Mandeln schneiden lassen. Und sie brachten mich nur mit der geheimnisvoll geflüsterten Lüge «… danach darf man so viel Eis essen, wie man will» unter das Ätherkäppchen. Nur – es war keine Glace. Sondern ein grässlicher Puddingmatsch. ICH SCHRIE ZETERMORDIO.

Meine Eltern wurden alarmiert. Sie bekamen eine zünftige Abreibung, weil sie mich punkto Glace angelogen hatten. Glace war nämlich nur in der ersten Klasse.

DA WUSSTE ICH, DASS ICH IN MEINEM LEBEN DAS LETZTE HERGEBEN WÜRDE, UM IN DIE ERSTE KLASSE ZU KOMMEN.

Natürlich kam dann dank der Gewerkschaft und ihrem Klassenkampf (den ich kleines Dummi immer als Glace-Kampf verstanden habe) ein ­bisschen mehr Kohle ins Haus. Und damit : ein amerikanischer Kühlkasten mit Gefrierfach. Unter einem amerikanischen machte es die Mutter nicht. Da konnte der Herr Gewerkschafter noch so lange vom «Scheissland der Kapitalisten» toben. Elisanne Blickensdorfer im Haus Nummer 116 hatte auch einen. Und sie war die Bibel des Quartiers.

Ich kann mich noch gut erinnern, als Mutter dann Milch und Schokolade mixte. Und dieses Geschlabber in den Eiswürfelbehälter abfüllte: «Jetzt können wir jeden Tag unsere eigene Glace herstellen», strahlte sie ihr schönstes Kind an.

Das Hausmachereis schmeckte enttäuschend flach. War nicht cremig. Und: «ICH WILL DAS VOM SCHNEIDERHAHN!», brüllte das Kind.

Da gabs vom Gewerkschafter aber zünftig um die Ohren: «ICH WILL … ICH WILL … ICH WILL! SO ETWAS WOLLEN WIR VON DIR NICHT HÖREN – KLAR?!»

Derselbe Papa hat zwei Wochen später im Gewerkschaftshaus einen dreizehnten Monatslohn für das Staatspersonal gefordert: «Ich will … ich will … ich will!»

Ich möchte mich hier nicht noch mehr über meine gefrorenen Leidenschaften auslassen, aber Glace hat mein Leben geprägt: BEI HELENE FISCHER KANN ICH NEIN SAGEN.

BEI EIS AM STIEL NICHT.

Nun dreht sich der missgelaunte Zahnstocher doch tatsächlich wieder zu mir um. Und plötzlich geht ein Grinsen über das Gesicht der jungen Frau: «Haben Sie auch schon etwas von Teilen in dieser Welt gehört? Jeder sollte dem andern etwas abgeben …»

Ich bin nun doch etwas verunsichert. ABER JETZT STRAHLT SIE TATSÄCHLICH – UND IST PLÖTZLICH BILDHÜBSCH: «Darf ich mal? – nur ein kleines Lutschen …!»

Sie streckte die Zunge raus. Und attackierte.

Das war das Ende des Kalten Kriegs. Und meines Eises am Stiel.

Dienstag, 14. Juli 2015