Er bockte.
Alte Leute bocken gerne.
Sie werden wieder zu kleinen Buben oder Mädchen.
Und der einzige Unterschied: Ihr «Zwänggrind» hat etwas mehr Runzeln.
Der Disput ging um den Geburtstag. Innocent feierte den 80.
ICH FINDE DAS WUNDERBAR.
ER FINDET ES «GANZ GANZ SCHRECKLICH!»
«Stimmt», mache ich ihm Mut. «Jetzt gehst du ins 90.!»
Diesen kleinen Seitenhieb hatte er verdient. Als ich nämlich vor einigen Tagen den total hochnäsigen Oberkellner des italienischen Sternelokals an den Tisch zitierte: «Dieser Fisch ist so ledern und zu stark durchgebraten wie Ihr einstiger Präsident Berlusconi», als ich da also auf Drama-Queen (wie Innocent meine Launen in den Dreck zieht) machte, ergriff der Alte doch tatsächlich die manikürte Hand des Kellners. Und tröstete ihn: «Hören Sie nicht auf die dicke Schwuchtel. Sie kocht den Flan immer aus dem Päckchen, und das Einzige, was er über Fisch weiss, steht auf der Tiefkühlstäbchen-Packung von Findus.»
Wir werden ja immer wieder gefragt: Wie ist es gemeinsam so steinalt zu werden?
NUN. ES SIND DIESE GEMEINEN KLEINIGKEITEN, DIE EIN ALTES LEBEN JUNG ERHALTEN.
Also: Diskussion um Innocents runden Geburtstag.
Ich: Lassen wirs krachen.
Er: Klöpfer und Most.
Vor allem bekniete er mich: «ES DARF ES KEINER WISSEN! WEHE DU SCHLACHTEST SO ETWAS WIEDER IN DEINER SCHREIBEREI AUS. ICH HABE DAS SOWAS VON SATT. DU BIST WIE EIN VAMPIR, Der ÜBER SEINE LEUTE HERFÄLLT UND IHNEN DEN LETZTEN PRIVATEN TROPFEN AUSSAUGT. FERTIG DAMIT!»
Ich umklammere seine schwachen Beine, um die sich Krampfadern wie blau gefärbter Schifftau winden: «DAS DARFST DU MIR NICHT ANTUN. DEIN GEBURTSTAG IST EIN TEIL MEINES LEBENS. Ich kann doch nicht immer über Tanten schreiben, die es nicht gibt!»
Ich holte heimlich die Heulzwiebel, die ich für solche Notfälle in der Seitentasche stets bei mir trage. Und reibe mir die Augen damit. Dann flenne ich los und versprühe Tränen wie Innocents neue Gartenspritzanlage: «DU VERSTEHST MICH NICHT – MICH UND MEINE GANZE KUNST!»
Er drückt am ferngesteuerten Ohrenverstärker: «Hast du eben Kunst gesagt?!»
ES FOLGT EIN DRECKIGES LACHEN.
Und die Diskussion, wie und wo wir den Achtzigsten einsam, geheim feiern sollen.
Also fuhren wir nach Apulien. Und dank diesem Horrorführer «ITALIEN – 5 DOLLARS A DAY!», mit dem schon die lieben Eltern von Herrn Innocent den Stiefel aufgemischt hatten, nächtigten wir in Pensionen, denen es ins Dach regnete. Und wo die Hühner ein froheres Leben führen als die Gäste neben deren Stall.
«Hier kennt uns kein Mensch», freute sich Innocent jeweils, wenn wir die vergilbte Adresse aus dem Buch ausfindig gemacht hatten.
Dreimal gabs die Pension schon gar nicht mehr. An ihrer Stelle stand jetzt ein Pornoshop, ein Aquariumgeschäft oder eine mit Brettern beschlagene Bauruine.
Diejenigen Unterkünfte, die tatsächlich überdauert hatten, kündigten sich mit einem Keramik-kätzchen als «Bed and Breakfast» an.
«Bad und Bruchfest» wäre passender gewesen. Toiletten gab es nur in Form eines gelochten Rundums auf ungehobeltem Brett. Wer sich drauf setzte, sah danach aus wie ein Igel: Stacheln noch und noch.
Aber Innocent bestach mit jener Logik, mit der er schon sein ganzes, langes Leben die Trumpfkarte gespielt hatte: «Wenn wirs jetzt rauswerfen, was bleibt uns dann im Alter?!»
WIE GESAGT: ER GEHT GEGEN 90.
Am eigentlichen Geburtstagstag wollte ich ihn früh morgens mit einem Küchlein und 80 Kerzen überraschen. Im apulischen Kleinstdorf war jedoch weder noch aufzutreiben. Also ging ich am Abend vorher in den Krämerladen. Und erstand eine 5er-Packung Schokoriegel. Mit dem Zigarettenanzünder bekam ich die ganze Scheisse weich. Klebte alles aneinander. Und klaute in der Kirche vor dem Bild der Gottesmutter eines der langen Wachslichter. Das rammte ich in die Riegel – und klopfklopfklopf! Dann: «Häppy Böööörtsdei, tu juuu ...»
Innocent öffnete nun doch etwas gerührt die schräge Türe – wurde aber beim Anblick der verschmolzenen Riegel gleich ungehalten: «Hätte einer nicht gereicht!»
Dann blies er die Kerze der Maria aus. Und ich ahnte seinen Wunsch vor dem rauchenden Docht: «Lass die Aktien wieder steigen!»
Natürlich habe ich weder auf Mund noch auf Griffel hocken können. Im Facebook gratulierten bereits Hunderte. Und die Bed-and-Bruchfest-Lady war auch instruiert: Sie hatte Innocent zum Frühstück eine Oliventorte gebacken. Allerdings hatte es Tomaten drin. Und auf die ist er noch allergischer als aufs «krachen lassen».
Ich weiss nicht, wie es kam, dass im kleinen Dorf am äussersten Absatz des Stiefels nun alle Menschen Innocent zujubelten. Sie umarmten ihn in den engen Gässchen. Und küssten seine Hände.
Irgend jemand muss das Gerücht verbreitet haben, er würde 100. Selbst der Bürgermeister des Ortes hatte sich auf dem Tomatenfeld frei genommen und die grosse rot-weiss-grüne Kunststoffschleife über seinen feisten Ranzen gebunden: «Es ist uns eine grosse Ehre, dottore ...»
Dann wartete jeder darauf, dass dieser alte Mann aus dem reichen Land seine Geldbörse zum Wohle aller öffnen würde.
«Sie wollen Spumante», flüsterte ich die Regieanweisungen durch.
«Ich will meine Ruhe», blaffte der Jubilar.
Und wieder warf ich mich vor seine Füsse. Wieder die Zwiebel! Und wieder strömende Tränen.
Die Menschen schrien «Auguuuri, auguuuri».Und das hat er dann auch ohne Verstärker hören müssen. Also erhob er sich ächzend aus dem Campingsessel, den die Gemeindehelferin mit Plastikblumen und einem handgemalten Plakat «GLUGGWUNSCH – 100 JAHRES» geschmückt hatte: «Cappuccino für alle!»
Der Applaus war jetzt etwas verhaltener. Aber er toste sofort wieder auf, als ich erklärte: «...und so viel Schnaps dazu, wie jeder will!»
SIE WOLLTEN VIEL.
Als der Jubilar am Tag darauf dann gar auf einem Foto, das ihn etwas schmerzlich lächelnd vor dem «GLUGGWUNSCH»-Poster zeigte, in der Provinzzeitung erschien, war er doch ganz glücklich: «Aber nicht, dass solche kostspieligen Auswüchse jetzt zur Gewohnheit werden!»
Dann schaute er mich vorwurfsvoll an: «Und wirf diese Heulzwiebel nicht jedes Mal einfach weg. Die kann man noch gut für den Salat verwenden!»