«Zwei Tage Lecce reichen!» – sagte Innocent. Er biss in eine dieser warmen Brioches, die sie in Apulien mit einer Mandel-Honig-Masse füllen.
Dann blickte er anerkennend zum Kellner, der uns den Tipp mit dem warmen Buckelweggen gegeben hat: «Molto buono…»
Der alte Mann schmunzelte. Und legte eine Kugel Gelato auf die Köstlichkeit: «Hausgemachtes Ricotta-Eis … man isst es zusammen mit der warmen Brioche…»
«Wir bleiben vielleicht doch etwas länger…», sagten wir daraufhin beide synchron. UND SO WURDEN ES FAST ZWEI WOCHEN.
Das Alter bringt nicht viel Schönes. Ich meine: alle halbe Stunde Pipihalt. Und immer die Panik: «Wo bekommen wir hier Batterien fürs Hörgerät…!»
ABER DIE MUMIEN-EPOCHE HAT AUCH GUTE SEITEN – NÄMLICH ZEIT. VIEL ZEIT. Wenn du in die Jahre kommst, kannst du dir den grössten Luxus dieser eiligen Welt leisten: MUSSE. Du brauchst nicht zu hasten, brauchst nicht ins Büro zu rennen – und pfeifst auf alle deine Mails. Du bist jetzt alt genug, um zu wissen: DAS EINZIGE, WAS NOCH AUF DICH WARTET, IST DER TOD. ALSO NIMMS GELASSEN…
Apulien ist gespickt mit einzigartig malerischen Orten. Lecce nennen sie hier «das Florenz des Südens». Aber es ist schöner als Florenz. Nicht so stickig, weil vom nahen Meer immer ein Wind weht. Nicht so überteuert. Und vor allem: noch nicht vom Billigtourismus platt getreten.
Es ist eine gemütliche 100 000-Leute-Stadt – ein Ort, wo sich Herr Innocent bei einer Flasche «Primitivo» federleicht fühlt. Und sich dazu Schweres wie pürierte Saubohnen an Minze und stark gewürzter Cicoria reinzieht. Die Cicoria wird in heissem Olivenöl mit viel Knoblauch angezogen und noch mehr Peperoncino gewürzt – er sei wild gewachsen, verkündet der Kellner stolz. Seine Mutter suche ihn jeden Morgen vor den Toren Lecces zusammen. Genauer: bei der Schnellstrasse nach Brindisi. Dort spriesse die Cicoria am besten.
Das Regionalgericht ist somit nicht nur reich an Vitaminen. Sondern auch gut dotiert mit Blei.
Morgens weckt mich jeweils ein süsslicher, warmer Wind. Er schmeckt nach frischen Marmeladen-Gipfeln, nach Ricotta-Krapfen und goldbraunen Brioches. Schon am ersten Tag hat mir jeder vom Ort diesen Brioche-Tipp aus dem Ofen von Beppe zugeraunt. Der Bäcker betreibt eine kleine Backstube – und die ist der Nabel der warmen Winde, welche Süssmäuler früh aus den Federn heben.
Ich schlurbe also auf die kleine Piazzetta. Es ist noch nicht sieben Uhr. Die Mauerschwalben ziehen in der Frühsonne ihre Kreise. Und Beppe sortiert die noch dampfenden Brioches auf ein Blech, das er mit weissen Papierspitzen ausgelegt hat.
Der Bäcker hat bereits drei wacklige Tischchen vor den Laden auf die Piazzetta geschleppt. Die Stühle entstaubt er wedelnd mit einem fleckigen Küchentuch. Und die Kaffeemaschine keucht bereits wie eine Rollatoren-Omi – dem Glück zu einer «buona colazione» steht also nichts im Weg.
Bald schon taucht «il Generale» auf – ein verhutzeltes, schnurdünnes Männchen, das sein letztes Fleisch in einem abgewetzten, grünen Lodenmantel warmhält. Zwei genauso verwitterte Veteranen nehmen vor dem General Haltung an. Tippen mit der Hand an eine unsichtbare Soldatenmütze. Und setzen sich nun auch an den kleinen Tisch, um die italienische Politikerwelt nach den Wahlen frisch aufzumischen.
«Beppe macht die besten Brioches in ganz Italien» – nicken sie mir später anerkennend zu, weil ich bereits das dritte reinzwitschere. Dann flüstert der eine: «…seine Frau liegt dort oben – la grande Norberta!» Sie zeigen auf zwei Fensterläden, die verschlossen sind.
«Norberta ist dick wie ein hundertjähriger Olivenbaum – sie kann nicht mehr die Treppe herunterkommen… seit fünf Jahren ist sie in ihrer eigenen Fülle im Schlafzimmer des Bäckers gefangen. Povera Norberta, povero Beppe!»
Norberta hat früher im Geschäft mitgeholfen. Aber sie soll so viele Brioches ihres Beppe reingehoovert haben, dass sie immer fetter und feisser wurde. Eines Tages schaffte sie es nicht mehr, aus dem Bett zu steigen…
«…sie soll einen Doppelzentner wiegen», flüstert das dünne General-Männchen ehrfürchtig, als spreche er von einer seiner Artilleriekanonen. «Und Beppe füttert sie noch immer täglich mit Brioches, obwohl es gesundheitlich gar nicht gut um ihr Herz steht…»
Es kam der Morgen, wo ich erwachte und wusste: ALLES IST ANDERS! Da waren keine Brioche-Wolken. Und ich hatte verschlafen. Zehn Minuten später kam ich auf die Piazzetta: Niemand hatte die Tische vor Beppes Laden getragen. Keine Stühle. Da gabs nur die drei Veteranen, die mir vielsagende Blicke zuwarfen: «Der Herr hat sie in dieser Nacht zu sich gerufen. Die Bestatter sind schon oben. Für sie ist es schwerer als für den Herrn – sie bekommen die Norberta nicht die Treppe runter!» Ein weiteres Problem war auch die Hitze, die für den Tag angesagt worden war. Norberta konnte nicht ungekühlt in der kleinen Bäckerkammer liegen bleiben.
Nun erschien Beppe unter der Türe. Er hatte rote Augen. Und seine weissen Bäckerhosen flatterten wie Segel im Sturm: «…wir müssen sie von der Feuerwehr holen lassen…»
Als die Pompieri mit dem roten Wagen anfuhren und die Leiter ausfahren liessen, stand halb Lecce mit dem Blick auf die nun offenen Fensterläden auf der Piazzetta. Die meisten Leute hatten Norberta noch gekannt, als sie den Kunden die legendären Brioches in eine Serviette einwickelte. Jeder wollte von ihr Abschied nehmen. Bis die Hitze unbarmherzig zuschlug – und Beppe mit einem Taschentuch vor der Nase erschien: «Basta adesso!»
Vier Feuerwehrleute haben schliesslich den riesigen senfgelben Sack mit Norberta drin im Zeitlupentempo durchs Fenster gehievt. Und als die Tote endlich auf dem Boden der Piazzetta lag – da applaudierte die Menge. Teils als letzter Gruss für Norberta – teils in Anerkennung für die herausragende Leistung der städtischen Feuerwehr. Pianopiano wurde der tonnenschwere Sack nun in den teerschwarzen Wagen des Leichenbestatters geschoben. Und im Schritttempo drehte das Auto auf der Piazza eine Ehrenrunde für die Dahingeschiedene.
Der Generale und die beiden Veteranen nahmen Haltung an und Beppe in ihre Mitte. Ich nickte dem Bäcker zu: «Mein herzlichstes Beileid, Herr Beppe …» Er schaute nicht auf – murmelte aber in meine Richtung: «Morgen gibts wieder warme Brioches, Signore…»