Brioches

Ihre Ehe war wie ein Shakespeare-Stück nach dem dritten Akt: ALLES GESAGT. VORHANG! Sie lebten nebeneinander her. Getrennte ­Schlafzimmer – aber gemeinsame Erinnerungen.

Letztere kitteten fester als Uhu-Alleskleber.

Einmal jährlich leisteten sie sich Ferien. Irgendwo an der Sonne.

Es waren die kleinen Streitigkeiten («... ich hab doch gesagt, l i n k s abbiegen, Karl!») und ­Boshaftigkeiten («In diesem Rock siehst du aus wie ein Ballon, Nelly!»), die das alte Leben während des Trips noch etwas jung würzten.

Beim Essen schauderte es sie, wenn er an seinem Fisch herumstocherte, als gelte es, eine Leiche für die Anatomie zu sezieren: «Jetzt iss doch endlich, Karl!»

Er hatte nie viel für kulinarische Höhenflüge übrig gehabt. In den ersten Jahren hatte sie ihn liebevoll bekocht: gefüllte Kalbsbrust ... Schlemmer-­Birnen ... Omelette soufflée.

Er hatte ihr die Hand getätschelt: «Ist ja gut gemeint, Nelly – aber ein Wurstsalat ist mir lieber – Wurstsalat mit viel, viel Zwiebeln!»

VIEL, VIEL ZWIEBELN!

Das war ihr erster Ehekrach gewesen.

Sie nannte ihn einen «gestörten Ess-Trottel».

Er nannte sie «eine verfressene Sau!»

Auch in den Ferien war das Essen immer ein Streitpunkt. E r wollte nichts N e u e s ­ausprobieren.

S i e aber kostete alles, was ihr noch nie unter die Geschmacksnerven ­gekommen war.

SO ETWAS WIEDERUM MACHTE KARL NERVIG:

«Jetzt haben wir eben gefrühstückt. Und du schletzt schon wieder so ein Weggli rein...»

«Das ist kein Weggli, Karl. Das ist eine Brioche...»

«Im Hotel hatte es dieselben. Weshalb hast du ­keines im Hotel gegessen? Jetzt gibst du hier 80 europäische Cents aus und...»

Sie zählte auf zehn. Dann: « ...die Brioches im Hotel schmecken nicht so gut wie bei diesem Bäcker hier. Mario macht die besten in ganz Lecce. Das hat mir unser schöner Concierge ­verraten...»

«Ach ja – der gut aussehende Concierge!», höhnte Karl. «Steht das Jüngelchen mit dem dämlichen Hühnerarsch-Goaty etwa auf ausrangierte ­Grossmütter?!» «ACH KARL!», seufzte sie. Und freute sich insgeheim, dass dieser selbst nach 48 Ehejahren immer noch einen leichten Anflug von Eifersucht zeigte.

Als sie am Tag darauf beim Frühstück sassen, balancierte Karl einen Teller mit Süssigkeiten an: «Bitte schön – diese Hotel-Brioches schmecken haargenau gleich wie die von deinem Bäcker! UND SIE SIND HIER IM ÜBERNACHTUNGSPREIS SOGAR INBEGRIFFEN.»

Sie biss in eines der Wonnehöpfchen. Schnitt sofort eine Schnute. Und lächelte mitleidig: «Deine Wurstalat-Philosophie holt dich immer wieder ein, Karl. Punkto Geschmack liegen Meilen zwischen dieser Brioche hier und denjenigen von meinem Mario ...»

Bevor sie abreisten, hielt Nelly nochmals beim Bäcker. «Ich hole noch Proviant für die Fahrt...»

In diesem Moment kam Mario aus dem Geschäft. Er balancierte ein Blech. Und lachte Nelly zu: «Aaaah – meine schöne Brioche-Queen. Bin gleich zurück. Muss diese hier nur rasch in Ihr Hotel ­ausliefern, Signora...»

Kurt brüllte vor Genugtuung: «...UND W E R IST JETZT DER KULINARISCHE VOLLDEPP?!»

Unterwegs klopfte er ihr auf die Knie: «Schöne Brioche-Queen – habe ich da was ­verpasst?!»

Sie schrie auf: «Pass doch auf beim Fahren – zur Autobahn geht es r e c h t s – du Vollhirn!»

Dann mümmelten sie schweigend die Brioches – und die waren nicht ein Drittel so gut wie ihr gemeinsames Leben.

Montag, 22. Juni 2015