Roma-Mädchen

Die Luft im Bus war stickig.

Lucia hielt den Atem an.

Sie sah die dunkle Hand, welche dem Touristen die Geldbörse aus dem prallen Bauchsack ziehen wollte.

SO EIN TROTTEL!

Hatte sich einen dieser unmöglichen Stoffbeutel umgeschnallt.

DANN NOCH ROT! – DA KANN ER SICH JA GLEICH EIN AUSRUFEZEICHEN AN DEN ­RANZEN HÄNGEN! TYPISCHE ­SCHWABEN-­PROVINZ, DAS!

O.k. Solche Ideen waren unkorrekt. Lucia musste den «tumben Tor» schützen. Doch wie?

«Misch dich nie ein!» – hatte die Mutter ihr schon früh beigebracht. «Dein Vater hat sich stets in alles reinhängen müssen – und was ist passiert? Er hockt im Regierungsrat statt am Mittagessen daheim!»

Der Vater hatte die andere Tonart drauf: «Wehre dich für die Schwachen, für die Randgruppen ...mische dich ein!»

DILEMMA!

Hier stiess ein Schwacher auf eine Randgruppe. Wem sollte sie nun helfen. Dem Deppen mit dem Kängurubeutel? Oder der jungen Zigeunerin, ­welche den menschenverstopften Römer Bus schamlos ausnutzte, um den Touris an den Speck zu gehen. «Man sagt nicht ‹Zigeunerin› » – hatte Lucia jetzt ihren Vater im Ohr.

Wusste sie. Das hiess «Roma». Oder «Sinti».

Schwule waren auch keine Schwuchteln mehr. Und «Neger» – daran wollte sie gar nicht mehr denken. Ihr war das schwarze Unwort passiert. Dies ausgerechnet an einer Studienwoche für Sozialarbeiter zum Thema «indigene Völker».

ABER HALLO – DA WAR PLÖTZLICH LEBEN IN DER SANFTEN SOZIO-BUDE!

Sie hatte den Mund zugehalten und geschluchzt: «... Es flutschte einfach so raus.» Der ­Gruppenleiter befahl Lucia, ihre böse Zunge mit Seife auszuwaschen.

KINDERGARTEN!

Damals wuchs in Lucia eine krasse Wut: «Was ­sollten eigentlich all diese Definitions-­Bemäntelungen. Als Kind schon durfte sie keine «wüsten Wörter» in den Mund nehmen. Das Resultat war, dass sie im Waschhaus 20-mal «Leckt mich alle am Arsch!» rausgebrüllt hatte. Und «vögeln ...­ vögeln ... vögeln!»

Lucia robbte sich nun zum ahnungslosen ­Schwaben durch. Dieser redete konstant auf seine Frau ein. Sie habe sich beim Kauf der Schuhe übers Ohr hauen lassen. Es war der typische ­Querulanten– «Schwoob». Aber «Schwoob» war ja noch schlimmer als «Neger». (In Gedanken wusch sich Lucia die Zunge.) Sie stand nun Arm an Arm beim Klauhändchen. Schaute den ­haselnussbraunen Augen böse ins Gesicht.

Und siehe da: Das Händchen zuckte zurück.

Es entwickelte sich ein Blickduell, dem Lucia ­bestens gewachsen war.

Als Sozialarbeiterin kannte sie sich in solchen Blicken aus.

Bei der nächsten Station verliess das junge ­Sinti-Mädchen den Bus. SACKSAUER. Und nicht ohne vorher Lucia einen giftigen Stoss gegeben zu haben.

Diese jedoch schaute nur triumphierend durch die römische Busscheibe. Und sah, wie die braunen Augen höhnisch zurückblinkten. Die kleine Hand machte das V-Zeichen.

«Sie sollten besser auf Ihre Tasche aufpassen!» – sagte Lucia zum deutschen Herrn.

Antwort: «Mischen Sie sich gefälligst nicht ein!»

Als sie in der Bar ihren Café bezahlen wollte, merkte Lucia, dass ihr Portemonnaie fehlte.

«Die kleine Zigeunerin hat noch das V-Zeichen gemacht!...», knurrte sie auf dem Polizei-Posten.

Der Polizist blickte tadelnd zu Lucia: «Das heisst heute ‹Roma-Mädchen› ...»

«Leck mich!» – fauchte sie.

(Den Rest des wüsten Schimpfsatzes ­vervollständigte sie dann zu Hause, wie sie es als Kind gelernt hatte.)

Montag, 15. Juni 2015