Von gefallenen Männern und Personal Training

Illustration: Rebekka Heeb

Marco Lusto schaut mich an.Er betrachtet mich, wie man etwa einen Gebrauchtwagen abschätzt.

Oder vier Occasionspneus.

Herr Lusto ist das, was man heute einen «Personal ­Trainer» nennt. Das hat nichts mit einem Einpauker für ­Kassiererinnen oder einem Betriebs­psychologen für die Big-Mac-Crew zu tun.

«Personal Trainer» bedeutet in diesem Fall: Er bringt die Knochen seiner Kunden persönlich auf Vordermann.

Seit Jahren bringt er diese auch bei Innocent in Stellung.

UND ICH MUSS SAGEN: MIT ERFOLG!

Herr Innocent bindet sich mit 80 seine Schuhe noch selber. Und pfeift sich fröhlich eins dazu.

Ich pfeife auch. Aber andersrum. Oder eben: aus dem letzten Loch.

Zum Schuhbändel komme ich nur, wenn ich den Schnürsenkel vorher gerade ausrichte. Dann lege ich mich quer dazu auf den Teppich. Und umgehe den Bauch mit asthmatischem Keuchen.

Können Sie sich noch an die Maikäfer auf dem Rücken erinnern – so ungefähr!

Damit meine kurzen Dickfinger die Schuhbändel erreichen, sind die extra lang (1,85 Meter das Stück) – der Rest hat das Doppelte erreicht. ZWEI MAL X. UND EINMAL L: XXL.

«Ja, ja», sagt Herr Lusto nun.

Er ist hager. Knochig. Und sehnig.

Als Menschenfresser wirfst du so etwas nicht in den Topf. Aber die modische Ausrichtung unserer Zeit hat nichts mit Menschenfressern am Hut. Deshalb finden alle diese durchtrainierte Art von Kerlen geil. Heiss. Und «… solche Muckis will ich auch!».

ABER ICH WOLLTE DAS NIE!

So. Eines Tages, als ich wegen so eines ver­dammten Asphaltlochs stolperte, ins Schwanken kam, dabei zwei falsch parkierte Fahrräder um­­stiess und dann im Trottoirgraben lag – an jenem Tag also stand Herr Innocent kopfschüttelnd daneben: «Ich habe es kommen sehen!»

DAS IST DER TROST, AN DEM SICH DIE WELT AUFRICHTEN KANN: «Ich hab es kommen sehen!» – es ist das meist ausgestossene Zitat der Politiker in der Freitags-«Arena»-Show. «ICH HABE ES KOMMEN SEHEN!»

Und – BITTE SEHR! – weshalb tut keiner vorher etwas dagegen?

DIE POLITIKER KOMMEN IMMER ERST, WENN DIE MENSCHEN AM BODEN LIEGEN.

Doch nun muss ich doch an­­merken: Hut ab vor der ­­jungen Generation. Da ­können sie sich gerne ein bisschen Shit reinpfeifen oder bis zum Morgen­­grauen abtanzen – WENN EINER SIE BRAUCHT, SIND DIE JUNGS DA.

Jedenfalls kamen gleich vier Studenten herbei­gerannt. Sie machten gemeinsam «hau ruck… ­hau ruck». Und stellten mich wieder auf – wie ein vom Wind durch­geschütteltes Zelt.

Es waren diese jungen Menschen, welche dem Gefallenen den Glauben an die Menschen zurück­gegeben haben. Mittleidig fragten sie ihn: «Haben Sie sich wehgetan? … Sind Sie wieder o.k.? …Sollten wir nicht doch lieber einen Krankenwagen rufen?»

Innocent hingegen blaffte: «…Ihr könnt ja gleich den Leichenwagen bestellen! Winkt ihm mit einer Praline zu – und er ist schneller in Bereitstellung als 100 Rekruten im Militär!»

Dann höhnisch zum Gestürzten: «Deine Hose hat einen Riss – das kommt davon, weil du sie für dein Gesäss immer zu eng einkaufst!»

Vier mitleidige Blicke blieben an mir und dem klaffenden Loch hängen – einem, aus dem ein bisschen Weisses von Dolce & Gabbana’s ­Unterhose rausblitzte.

Einer der jungen Kerle schob mir flüsternd ein handgeschriebenes Zettelchen zu: «Das ist meine Handynummer – falls er Sie schlägt!»

Da wusste ich: Unsere Welt ist nicht verloren!

Zu Hause müffelte Innocent dann leise vor sich hin. Ich hörte ihn mit seiner Freundin Rosalinde telefonieren: «Es hat ihn einfach hingeknallt … kein Gramm Gleichgewichts­gefühl … eine Ruine, sage ich dir. Ich melde ihn jetzt bei Marco Lusto an!»

Mir war so mies, wie dem Dackel, der zur Hundeschule sollte…

«Legen Sie sich einfach mal auf den Boden», sagt nun Herr Lusto.

Er hat für das Liegen eine kleine Matte mitgebracht, die – wie er sagt – biologisch abbaubar sei.

Ich gehe also nieder. Strecke mich aus. Und ein wohliges Schlafgefühl überkommt mich – SO MACHT PERSONAL TRAINING SPASS.

Gut. Gut. Ich hätte mir ja denken können, dass das Ganze einen Haken hat. Ich solle die Beine knapp vom Boden abheben … und ausgestreckt hoch­halten … «Haaaalten!»

Der Personal Trainer zählt langsam auf fünf – so langsam, als hätte er einen Job beim Staat ­gefunden. Dann stürzen meine Beine ab. Und Herr Lusto lächelt freundlich: «Jetzt versuchen wirs mal bis acht…»

GOTT, WIE ICH IHN HASSE!

Er erinnert mich an meinen Turnlehrer Maag. Der verlangte auch immer das Unmögliche. Ich soll die Kletterstange rauf – bis ganz, ganz oben!

Ich kam stets eine Hand breit über den Boden. Dann sackte ich ab. Und «Memme!», sagte Maag.

SO ETWAS SAGT JETZT HERR LUSTO NICHT.

Aber ich kann in seinem Hirn lesen. Und darin sieht es nicht schön aus!

«Versuchen Sie aufzustehen!», nickt der Personal Trainer freundlich.

«Ich kann das unter vier Sekunden», gibt Innocent dick an.

«Das können Sie auch bald», nickt Lusto mir ­aufmunternd zu. Und rollte die Biomatte wieder zusammen.

Dann klopft er mir auf die Schultern: «Für den Anfang war das gar nicht übel … es steckt viel mehr Potenzial in ihren Knochen, als Sie glauben …» Hatte das Maag nicht auch gesagt, als ich zum vierten Mal von den Ringen donnerte?

Dienstag, 9. Juni 2015