Milli war eine andere Welt.
Um ihre geheimnisvoll knisternden Seidenröcke wehte ein leises: «Mit Prinzessin Annetrude bin ich auf Du.» Oder: «Ihr hättet mal die Palatschinken essen sollen, die bei Tante General aufgetischt wurden!»
TANTE GENERAL! DIES IN EINEM HAUS, WO AM 1. MAI ROTE STOFFFÄHNCHEN VERKAUFT WURDEN …
Wenn Milli – sie war Grossmutters Cousine aus den bessern Zeiten – in Basel haltmachte (Milli war stets unterwegs zu irgendeinem dieser Schickimicki-Kurorte, wo sie sich Klistiere einführen und Heupackungen auflegen liess), wenn Tante Milli also aus Wien anrückte, wurde das Haus auf Hochglanz getrimmt.
Die Frauen hatten den Herzkasper. Und die Männer betäubten sich mit etwas, das sie «Kaffi Jätter» nannten.
Wie eine Herde bekiffter Ameisen wuselten die Weiber nun in der Trämler-Wohnung herum.
Selbst die Oma, die ein Leben lang keinen Finger gerührt hatte, weil ihr das Herz (so sagte sie) bei schwerer Arbeit rasseln würde, selbst Frau Meyer mit Ypsilon also rieb jetzt unser Halbsilber auf schrill und Gloria.
Das geschliffene Kristall, das Onkel Theobald seiner Patentochter (meiner lieben Mutter) zur Hochzeit vermacht hatte («damit dein Gewerkschaftshund nicht immer die Bierflasche direkt ansetzen muss!»), wurde hinter der Buffetvitrine hervorgeholt. Entstaubt. Und in ein Pril-Bad getaucht.
«Was machen wir mit dem andern?», knurrte die Oma. Und rieb an der Silbergabel so heftig, als hätte sie «den andern» zwischen ihren Fingern.
«Der andere» – das war ihr Schwiegersohn.
Mutter überhörte den stillen Vorwurf mit dem Leidensblick der Pietà.
Die herzkranke Oma bog unbarmherzig die nächste Gabel krumm: «Am besten wir narkotisieren ihn für die kommenden vier Tage.»
Mutter zog nun doch eingeschnappt und deshalb etwas zu ruckig ein Weinglas aus der Pril-Lauge: «Jetzt reicht es aber, Mutter!»
Das Glas machte – dling! – dann war der Kelch ab, wie bei einer müden Rose.
«Siehst du», sagte die Oma schadenfroh, «das kommt davon, wenn man unter seinem Stand heiratet. Dies, wo wir eh zu wenig von den böhmischen Rotweingläsern haben.»
Am Abend entspann sich dann zwischen dem Elternpaar ein gar fröhliches Gespräch: «Hans?!»
«Mmmmm?» – mein Vater blätterte missmutig in der Arbeiterzeitung. Und nannte den Chefredaktor einen Armleuchter, weil dieser nichts vom «bunten Abend» seines Trämler-Chors gebracht hatte. Nur eine kleine Notiz unter «Verschiedenes».
Mein Vater war stolz auf den Chor. Er unterstützte ihn mit seinem hellen Tenor. Und kassierte die Jahresbeiträge ein.
«Ich glaube, jemand sollte in Adelboden zum Rechten sehen. Der Mai-Sturm hat Ziegel vom Dach gefegt und…»
«Mmmmm.»
«Wenn es weiterhin so schüttet, ist das ganze Mobiliar futsch und…»
«Mmmm.»
«HÖRST DU MIR ÜBERHAUPT ZU, HANS!?»
Nun schaute mein Vater gelassen von seinem Blatt auf: «Wann kommt sie? Wann soll ich das Feld räumen…?»
Mutter protestierte etwas zu erstaunt: «Wer kommt? Ach die Milli, meinst du. Aber nein, mein Guter – was denkst du auch. Milli wird sich freuen, dich zu sehen.»
Er faltete die Zeitung zusammen: «Dann ist ja gut.» Jetzt wurde sein Ton so sachlich und scharf wie immer, wenn er von den Blutsaugern und Kapitalisten sprach: «Und eines kann ich dir sagen, Lotti – diese halbseidene Kuh mit ihrem von und zu geht mir kalt am Arsch vorbei!»
Wie gesagt: rote Fähnchen am 1. Mai…
«Das hast du ja sauber hingekriegt!», tobte das Ypsilon am Tag danach. «Kannst du dir vorstellen, wie meine Cousine uns in ihrem Wiener Milli-Milieu schildern wird? WIR SIND UNTEN DURCH, LOTTI. ABER GANZ UNTEN DURCH! Ach Gott – wie gut, dass dies mein Adolf nicht mehr erleben muss.»
Adolf war nicht der. Sondern mein Grossvater. In jener Generation hiessen alle so.
Wir holten Milli am Bahnhof ab. Obwohl sie kaum grösser war als ein Besen, lief sie so aufrecht und stolz, dass man glaubte, zwei Meter Hochadel vor sich zu haben.
«Mach jetzt den Diener!» – flüsterte das Ypsilon.
Die Oma hatte mir seit Tagen eingetrichtert, wie man sich als kleiner Nobelmann zu benehmen hatte: «Knicks. Handkuss. Und dann sagst du deutlich deinen Namen!»
ICH FAND DAS STINKEDOOF. UND NICHT MEINE NUMMER.
Also entschloss ich mich zu einer blumigen Révérence, wie sie mir Dorli Muff beigebracht hatte. Dorli war Ballettschülerin.
Ich sank elegant vor die Tante hin. Streckte ihr meine Hand mit dem roten Wundertüten-Glasklunker am Mittelfinger hin. Und deklamierte: «Seid gegrüsst, oh holde Gute.»
«Jerum – das Buaberl is aber gonz weit am andern Ufer», kommentierte die holde Gute.
Es wurde angespannt gelächelt. Nur die Ypsilon-Oma kniff mich in die Hinterteile. Und zischte «DAMIT BIST DU ENTERBT!»
Beim Nachtessen sass Vater stumm vor dem gestärkten Tischtuch. Er wurde erst munter, als Milli rief: «Hobts kein Bier im Haus?»
«Ich hols aus dem Keller, Tante Milli», rief er erfreut. Und wollte ihr später das Warteck hell in eines unserer letzten Rotweingläser einfüllen – doch: «Y nimms ob der Flaschen, Hanserl.»
Entsetzt schauten Cousinen und Nichten auf den Hals mit den fünfreihigen Perlen. Er vibrierte hinter dem Schmuck Schluck für Schluck.
«Bravo, Milli», schlug Vater der Tante die Pratze auf den Rücken, «du gefällst mir. Leider muss ich jetzt zu meiner Trämlerchor-Probe und…»
«ICH KOMME MIT – ICH SCHWÄRME FÜR CHÖRE. IN WIEN HABEN WIR DIESBEZÜGLICH EINIGES ZU BIETEN.»
So fuhr sie auf dem Sattel von Vaters Velosolex beim «Hopfenkranz» vor.
Am Tag danach verlangte sie ohne Anmeldung den Chefredaktor der Arbeiterzeitung zu sprechen. Sie nannte ihn einen Kulturdeppen: «Solche Prachtsstimmen gehören doch mit Bild auf die erste Seite! – Ich komme aus Wien und kenne mich aus, guter Mann!»
Und so erschien der bunte Abend dann doch noch auf der Front. Mit Bild. Und mit dem Titel: «Wiener Prinzessin von Basler Arbeiterstimmen hingerissen».
Sie wurde Ehrenmitglied des Basler Strassenbahnchors.
Und Ypsilon-Oma rümpfte die Nase: «Milli war schon als Kind sehr seltsam.»