Von Mamsell Gruber und der Wiener Kaffee-Art

Illustration: Rebekka Heeb

Die kleine Frau bei «Demel» fällt auf. Wie eine Tortenschachtel im Leichenhaus. Oder ein ­blühender Kirschbaum in der Wüste. Ihr Kopf trägt ein ­grünes Hütchen. Darauf ­zittern ein Dutzend Federn in Regenbogenfarben. Die Vögel allerdings scheinen ausgeflogen zu sein.

DOCH DA SIND KIRSCHEN. VIELE KIRSCHEN. SCHWARZ WIE TEER. Immer wenn die dünnen Finger mit den blutroten Fingernägeln die Tasse zur Lippe führen, wackeln die Kirschen, als würde ein heftiger Wind durchs Hütchen ziehen.

Die Leute, welche das berühmte Kaffeehaus besuchen, stieren durch eine Glasscheibe. Dahinter werkeln Zuckerbäckerinnen an einer Hochzeitstorte. Schweinchenrosiger Marzipan wird dünn ausgewallt. Und über einen dreistöckigen Kuchen drapiert – so als würde eine Brautjungfer für den Altargang hergerichtet. Die Mädchen mit den weissen Schlappmützen drücken aus prall­gefüllten Spritzsäcken barocke Ornamente aufs Süsse. Herrliches Zuckergeschnörkel. Alles in der Farbe von verblichenen Veilchen.

Die kleine Frau am winzigen Marmortisch zieht die Lippen nach. Blutrot. Passend zu den kleinen Krallen. Die Natur hat sie beim Mund stiefmütterlich behandelt: zwei dünne Striche. Darunter feine Ausrufezeichen, welche das Alter und Zahnausfall verraten.

Der Stift übermalt nun alles grosszügig zu einem roten Kussmund in weiss gepuderter Landschaft. Das aufgemalte Lippenherz leuchtet wie das Glühlämpchen bei gewissen Damen im Wiener Aussenring. Es ist, als würden die Rotlippen flüstern: «NUR ZU… NUR ZU…!» Sie sind ein bisschen geöffnet. Und geben dem weiss geschminkten Kopf etwas rührend Naives.

Natürlich ist bei «Demel» kein Platz. TOURISTENFÜLLUNG! Japaner, Chinesen, Russen schieben sich die legendären Törtchen rein. Für einmal interessieren mich die schwarzen Kirschen und der grelle Herzmund mehr als all das Süsse. WER IST DIE ALTE? EIN ÜBERBLEIBSEL AUS DER ­KAISERZEIT? SISSIS KLEINE ZUCKERPUPPEN-TOCHTER? ODER KOMMT SIE DIREKT VOM MARMORFLÜGEL VON UDO JÜRGENS AUF DEM WIENER GRABHOF?

Ich frage die Frau, ob es erlaubt sei. Die Kirschen wackeln etwas irritiert. Die Federn zittern. Und: «Bitte!» Die Kellnerin kommt. «Espresso», sage ich. «Falsch», flüstert der Kirschenmund. «Sie wollen einen kleinen Schwarzen. Und wenn Sie ihn ‹ristretto› wollen, heisst das ‹kleiner Schwarzer kurz›.» «Aha», sage ich.

«Ja. Und ich kann mir vorstellen, dass er Ihnen nicht schmecken wird. Nehmen Sie einen Salon Einspänner – das ist ein Doppelmokka mit Schlagobers.»

«Aha.»

«Ja – oder wenn Sie keinen Rahm mögen, dann eine Wiener Mélange. Die ist mit Milchschaum.» Langsam geht mir das Weib auf den Wecker.

ICH WILL EINEN HUNDSGEWÖHNLICHEN ESPRESSO. BASTA. UND DIE BETET HIER DIE WIENER KAFFEEBIBEL RUNTER, SODASS ICH NICHT MEHR WEISS, WO MIR DER KOPF STEHT.

«Mögen Sie Rahm? Guter fetter Schlag­obers?»

«Bitte wie?»

Sie schüttelt unwillig über meine Begriffsstutzigkeit den Kopf, sodass die Kirschen höhnisch ­klappern: «Wenn Sie geschlagenen Rahm mögen, sollten Sie einen ‹Überstürzten› bestellen.»

«???»

«Man serviert eine grosse Portion geschlagenen Rahm in der Kaffeeschale. Und separat ein Kännchen mit doppeltem Mokka. Den giesst man über den Schlagobers…» Jetzt lächelt das grellrote Mündchen genüsslich: «Aber natürlich kann man auch den Schlagobers separiert zuckern. Und als Zwischenmahlzeit löffeln. Dann hat man den Mokka natur übrig…!» Die Serviertochter geht seufzend weiter: «Ich komme wieder, wenn Sie sich entschieden haben!»

«Das haben Sie davon!», sagt das Grellmündchen schadenfroh. «Heute muss man sich schnell entscheiden. Früher hatte man in Wien mehr Zeit. Vor allem in den Kaffeehäusern. Da sassen die Leute stundenlang an einem Einspänner und blätterten sich durch die Journale. Im Krieg, als überall die Heizungen ausfielen, kamen wir hierher, um uns aufzuwärmen. Da wars noch voller als jetzt …» Sie schaut sich um: «Früher haben die Tortenbäcker ihre Zucker­geheimnisse für sich behalten … aber heute, mit diesem modernen Zeug, wo jeder alles über jeden weiss, backen sie sogar vor den Gästen. WO BLEIBT DA DER SCHMELZ? DER REIZ…?»

Ich weiss noch immer nicht, wer sie ist. Vermutlich ein verbröckelter Variété-Star. Oder eine Ballettlehrerin der Staatsoper, die noch Nurejew die Pirouetten drehen lehrte… ABER ICH KANN DIE ALTE SCHLIESSLICH NICHT UNGALANT LÖCHERN: «HEEE… JETZT SPUCKS MAL AUS: WELCHER KLAMOTTE BIST DU ENTSTIEGEN? ODER BIST DU DIE VERSTECKTE KAMERA?»

Sie ist da direkter: «Woher kommen Sie eigentlich?» Ich hüstle etwas geniert – die Schweizer haben im Ausland nicht mehr den Ruf, dass man stolz mit dem roten Pass wedelt: «Also… ähem …aus Basel!»

«BASEL?», zwitschern die Blutroten. «BASEL – DU SCHÖNE AM RHEIN… da war ich oft. Eine interessante Stadt. Und alles so kunstinteressierte Menschen. Sie müssen nämlich wissen…»

«HABEN SIE SICH JETZT ENTSCHIEDEN?», unterbricht die Serviertochter salopp. «Ich nehme Tee…», sage ich. Die Kirschen erzittern entsetzt: «Das hier ist ein Kaffeehaus. Also den Tee können Sie den Russen überlassen…» «Was für einen Tee?», fragt die Kellnerin barsch. Wieder das Zittern auf dem Hütchen: «Also, wenn es schon Tee sein muss, dann kommt nur die Zarenmischung des Hauses infrage… aber bitte mit Honig statt Zucker!», sagt sie energisch zur Serviertochter. Und packt Lippenstift, Puderdose und die kleine Geldbörse mit der Gobelinstickerei zusammen: «Es war nett, Sie kennengelernt zu haben…»

Und so entweicht sie mir und meinen tausend Fragezeichen wie Cinderella vor dem Zwölfuhrschlag dem Prinzen.

Etwas später stellt mir die Kellnerin ein Tablett mit einer Teekanne hin. Daneben ein Töpfchen mit Honig: «Darf ich gleich einkassieren? – Wir haben Servicewechsel.» Und dann: «Sie übernehmen doch die beiden Einspänner von Mamsell Gruber…» Da sitze ich nun: mit einem Tee, den ich nie wollte. Mit Honig, den ich aus magenbrenntechnischen Gründen nie esse. Und mit der ungelösten Frage: WER ZUM TEUFEL WAR MAMSELL GRUBER…?

Dienstag, 12. Mai 2015