Jörn schrie Zetermordio. Und wenn ein Kind schreit, gehen meine Nackenhaare hoch wie Omi Meier, wenn wir sie auf die Wippe liessen.
«Dläääfer … Dläääfer!», brüllte der Kleine.
Er hat einen Sprachfehler. Ich meine: Ein normales Kind kann sich mit 48 Monaten deutlicher artikulieren – etwa: «Hallo, Aufmerksamkeit – ich sehe einen Käfer!» Aber nein! Jörn kreischt sein hohes C. Und : «Dlääfer… Dlääfer!»
Ich bin überzeugt, dass so etwas von diesem saudummen Namen kommt. Weshalb meinen moderne Eltern, sie müssen ihre aufgeschlossene Art durch ihre Kinder unter Beweis stellen? Egoistisch denken sie keine Sekun- de daran, was sie dem Kleinen antun. JÖRN! Nicht jeder Bub ist zum Exoten geboren. Und «Jörn» weckt die Erwartungen nur in der Sparte Tennis. Oder hiess der Mann damals Björn? Egal.
KÖNNEN SIE SICH EINEN JÖRN ALS 007-AGENTEN ODER NOBELPREISTRÄGER VORSTELLEN?
Bitte – so werden Karrieren von selbstsüchtigen Eltern verbaut.
Weshalb konnten die Hubers nicht einfach das alte, simple «Georg» wählen? GEORG HUBER. Tönt doch nett. Und lässt auch die Option auf einen Stuhl im Nationalrat offen. ABER NATÜRLICH TÖNT «JÖRN» HIPPER – «MAXIMEGACOOL!» – SO DENKEN DIE HUBERS DER NEUSPRACHENGATTUNG.
Jörn ist die nordische Form von Georg. DOCH LEBEN WIR HIER ETWA IN DEN FJORDEN? ODER IN EINEM SCHWEDISCHEN SCHLITTENLAGER? Ich frage ja nur. Das Resultat jedenfalls ist: «DLÄÄFER… DLÄÄÄÄFER…»
Ich renne ins Wohnzimmer, wo der Kleine vor dem Fenster steht. Da merkt man ja schon, dass etwas nicht stimmt. Ich habe ihm den Fernseher angeschaltet und eine DVD von «Die Sendung mit der Maus» reingeschoben. Und was tut der kleine Herr mit dem seltsamen Namen Jörn? ER SCHAUT AUS DEM FENSTER! Benimmt sich so ein stinknormales Kind? Ein kleiner Bub nimmt doch sein Gewehr und schiesst den Bösmännern im Computerspiel die Birne weg. Georg Huber hätte das getan. Wohingegen Jörn Huber: «DLÄÄÄFER … DLÄÄÄFER!»
Ich will es hier gar nicht schönreden: Aber kleine Kinder sind nun wirklich nicht mein Ding. Ich bin für so etwas schlecht durchprogrammiert.
Als Buben haben meine Alten, die immerhin auf den vernünftigen Namen «Hanspeter» – in einem Wort geschrieben – gekommen waren, als Buben haben die Alten mir also einen Klaps auf die Windeln gegeben: «Jetzt spiel mal fröhlich mit den anderen Kindern!»
DAS BRACHTE ES DEM SCHÖNEN JUNGEN GAR NICHT.
Ich fand alle Windelscheisser einfach nur stinkig und so was von doof. Entsprechend rümpfte das kleine Kind konstant die Nase, was ihm schon früh den Ruf «hochnäsig» einbrachte.
So kam ich also mehr auf die Tantenseite. Ich buhlte um die Aufmerksamkeit von Mutters Schwestern und Cousinen. Und lernte bereits im elften Monat, den kleinen Finger beim Teerühren zu spreizen, als gelte es die vornehme Welt damit abzustechen.
Mit den grossen Männern hatte ich es weniger. Für die waren Windeln damals eh das Letzte. Wenn ich an all die wunderbaren Väter von heute denke, die auf Wickeltischen so profimässig umpacken wie Supercenters das abgelaufenen Data-Hackfleisch – da muss ich schon sagen: Hut ab!
Aber zu meiner Wickelzeit fanden Männer nicht statt. Es mag an den fehlenden Pampers gelegen haben. Windeln waren damals keine Wegwerfpackung. Die wurden geleert (fragen Sie mich nicht: WOHIN?). Und daheim im Zuber ausgewaschen. EIGENTLICH MÜSSTE MAN DEN HERREN PAMPERS, DIE ALL DEM BABYSCHEISS EIN VERNÜNFTIGES ENDE GESETZT HABEN, EIN DENKMAL ERRICHTEN!
Dank Ernst-August und Willibald Pampers waren und sind Männer heute bereit, den Frischling sauber auszunehmen. Doch diese Wickelzeit entwickelte sich erst später auf maskuliner Ebene.
«Dläääfer… DLÄÄÄÄFER!» Das Kind mit Namen Jörn ist wirklich eine Nervensäge. ABER DAS SIND SIE ALLE. Ich habe dieses Kinderwagen-Gedüdel «Gott wie niedlich…» nie kapiert. Für mich waren Kleinkinder einfach nur ein Stück noch ziemlich unabgehangenes Fleisch.
Das alles hätte ich natürlich bedenken sollen, als meine Nachbarin, Vally Huber (Vally mit Vau – ich bitte Sie!) plötzlich auf meiner Schwelle stand: «Ich bin so etwas von durch den Wind … Kannst du mir den kleinen Jörn abnehmen?… Der Babysitter ist nicht gekommen. Und ich habe heute den Ausflug mit meinen Yoga-Frauen …»
YOGA-FRAUEN! ABER VALLY MIT VAU! Sie schob mir den kleinen Björn einfach wie ein Werbepaket von Ikea in den Gang. Sie hätte mir auch eine Zeitbombe abgeben können – ich wusste einfach nicht, wie man so etwas handhabt.
Gottlob war da also die Kassette von der Sendung mit der Maus.
KEIN ERFOLG.
Ich habe das Märchenbuch mit der Geschichte von den beiden Kindern, welche die Hexe als Riesenrostbraten kokeln lassen, hervorgeholt. Jörns Kommentar: «ISS NIT DLUSTIG.»
Und jetzt also: «DLÄÄÄÄFER …DLÄÄÄFER …» Ich gehe ins Wohnzimmer. Und sehe: einen Maikäfer!
Er krabbelt am Fenstervorhang. Und Jörn schaut ihm gebannt zu: «Dläääfer!», flüstert er fasziniert.
«Kääääfer …» doziere ich. «Maikääääfer.» Vierjährige Buben sollten in der Lage sein, Korrekturen in sich aufzunehmen. SELBST WENN SIE JÖRN HEISSEN UND IHRE MAMA YOGA SPIELT.
Dann frage ich mich: Wo kommt bloss dieser Maikäfer her? Seine Gattung ist doch schon längst aussortiert. Und findet höchstens noch auf Schokoladenbasis statt…
Ich beobachte das Exemplar genau. Kein Zweifel. Es ist die Art der Melolontha aus der Familie des Blatthornkäfers. In Naturkunde hatte Lehrer Müller sie sackweise herbeigeschleppt. Wir mussten alle sezieren. Flügel auseinandernehmen. Kopf abtrennen. Auf Karton aufpinnen. Meine Melolontha ist damals aus sieben Käferleichen zusammengepuzzelt worden. Es war schon damals klar, dass ich nie bei «Tatort» das Skalpell schwingen würde.
«Maikäääfer», strahlte Jörn plötzlich. Und sein Lächeln wärmte mein Herz: «Gescheites Kerlchen» sagte ich. Und steckte ihm als Belohnung zwei von meinen Schoko-Snickers zu.
Er schüttelte den Kopf: «Macht Zahn krank…»
DAS KOMMT DAVON, WENN MAN KINDER JÖRN TAUFT!
Ein Hanspeter (in einem Wort) hätte kommentarlos zugeschnappt. Und sich freudig Karies geholt.
TROTZDEM BLEIBEN VIELE FRAGEN OFFEN: SEI ES PUNKTO RICHTIGER NAMENSGEBUNG. ODER DEM PROBLEM: WESHALB GIBT ES KEINE MAIKÄFER MEHR?