Negroni sbagliato und ungemachte Hotelbetten

Illustration: Rebekka Heeb

Die Hotelhalle war lärmig. Und voll. ÜBERVOLL. Ernestine hatte mir den klosterähnlichen Kasten empfohlen: «Du bist nur ein Taschentuch breit von da Vincis ‹Abendmahl› entfernt. Und das Frühstücksbuffet bietet auch handwarme Früchtekuchen…»

Eigentlich kann ich mich immer auf Stinchens Tipps verlassen. Als sie sich mit 27 Jahren von ihrem dritten Mann scheiden liess (und wie schon bei den Vorgängern ganz zünftig abkassierte), meinte sie: «Also das mit den Männern habe ich jetzt gesehen – aber die Welt noch nicht…»

Daraufhin zog sie los. Schrieb für Reiseführer und Sonntags-Beilagen «Impressionen aus City X». Später wurde sie berühmt für ihre Gastro-Kolumne «Ernestine’s Sandwich-Hits». Jede Woche benotete sie mit 1 bis 5 Serviettenringen die «Club-Sandwiches» in den Luxuskästen auf der mondäneren Seite dieses Erdballs.

Stinchen wusste besser über die Zusammensetzung eines «Imperial-Burgers» im «King David» von Jerusalem Bescheid als über die Farbe ihrer Schlafzimmervorhänge. Kurz: Sie war immer auf Achse und besuchte ihr Winterthurer Heim nur sporadisch, um die Spannteppiche zu wechseln. Das hatte weniger mit Winterthur zu tun als mit einer inneren Unruhe, die Stinchen durch die Kontinente hetzte.

Stinchen war also Expertin in der Hotel-Bewertung (und deren Club-Sandwiches). BEI MAILAND ABER HATTE ICH MIT IHREM TIPP DIE ARSCHKARTE GEZOGEN. Ich erwartete nach den Schilderungen einen verschlafenen Klostergarten mitten in der Stadt. Und der übertriebene Übernachtungspreis hat solche Gedanken mehr als gerechtfertigt. Aber statt des propagierten Klosterrasens mit 200 Rosenbeeten war da eine Zeltstadt gewachsen. Und jedes Zelt hatte ein Wollgarn anzubieten. Kurz: ich war mitten in eine Expo der Strickmode geplatzt. Alles engmaschig. Dies alles – wie gesagt – nur einen Pfannenlappen von da Vincis «Abendmahl» entfernt.

Als Mann von nicht so professionell gestricktem Garn fühlst du dich einsam. Verloren. Besonders wenn du deine Koffer mutterseelenalleine aufs Zimmer buckeln musst.

Die Hoteldiener hatten alle Hände voll zu tun, die Garnleute mit Mineralwasser, Caffè macchiato oder diesen mexikanischen Mais-Chips, die immer ein bisschen nach angebranntem Huhn stinken, zu versorgen.

MEIN ZIMMER JEDOCH WAR NOCH UNGEBETTET. Und: «Schauen Sie sich doch so lange da Vincis ‹Cenone› an. DIE PARTY UNSERES HERRN JESUS UND SEINEN FREUNDEN FINDET GLEICH ÜBER DER STRASSE STATT – HAHA!»

Natürlich kommt einer schneller an die Wurst von Conchita als zu Leonardos «Abendmahl». Beim Kassenhäuschen standen die Leute jedenfalls Schlange wie zum Finalspiel der Champions League.

Ein junger Mann mit feurigen Augen murmelte mir dann leise etwas ins Ohr, das ich zuerst missverstand. Als er jedoch flüsterte: «Hier ist ein Eintrittsticket für 50 Euro, signorino bello», da wusste ich: Der Preis ist übertrieben. Dafür hätte der HERR sechs Abendmahlrunden schmeissen können.

Aber natürlich nahm ich an. Schon wegen des «schönen Signorino». Billiger kommt man in unserm Alter nicht mehr zum Honig. Allerdings wurde ich dann am Eingang ziemlich ruppig abgekanzelt: «Das ist kein Ticket – das ist die Papierschutzhülle eines Überraschungseis!» Und das hatte ich jetzt davon.

Natürlich war das Zimmer noch immer nicht gemacht. Meine Koffer standen wie ein verschlossenes Ausrufezeichen im chaotischen Raum herum. Also ging ich in die Hotelhalle. Und die war lärmig. ÜBERVOLL – und schon sind wir wieder am Anfang der Geschichte. Aber noch nicht in einem gemachten Bett. Ich war so was von ­stinkesauer, dass ich am liebsten losgeschrien hätte. Aber das feine Garn der Wollhändler verbot solches. Also nahm ich ein Taxi. Und knurrte den Fahrer an: «Irgendwohin – nur weg!» Er schaute in den Rückspiegel. Und in seinem Grinsen erkannte ich die Erfahrung des Schwergeprüften: «Krach mit der Alten?!» Er sagte es auf Italienisch. Und etwas netter. Aber es kam auf dasselbe heraus.

Nach 40 Minuten Zickzackfahrt setzte er mich vor einer Türe ab. Ein rotes Band leuchtete «BAR BASSO». Und im Innern sah es aus, wie bei der «lustigen Witwe» – viel Rot, viel Lüster, viel ­lustiges Volk. Der Barman zwinkerte, als hätte er Blütenstaub im Auge: «Negroni sbagliato?»

Ich dachte zuerst, er wolle mich fragen, ob ich im falschen Film gelandet sei. Aber schon stand ein hohes Glas vor mir. Drin ein wuchtiger Eis­würfel. Und «salute!», kicherte die Dame auf dem Barhocker neben mir. Sie war aus Verona. Und erklärte mir, dass die Sitte des Aperitivs wohl in Mailand eingeführt worden sei. Der «Negroni» aber aus Verona stamme. Genauer: aus dem Caffè Casoni. Und dort vom Barman Fosco Carsello.

«Aha», sagte ich. Und schaute etwas verunsichert auf das Gesöff. «Ich mag keinen Alkohol…» Sie lachte die Tonleiter rauf und runter: «Das ist kein Alkohol, Signore. Das ist Negroni sbagliato, in Verona nimmt man dazu je einen Drittel, Gin, Wermut und Bitter-Campari. Die Mailänder aber schütten statt Gin Spumante ins Glas. Deshalb kann man wohl kaum von Alkohol ­sprechen…»

Sie lächelte kokett. «Mi chiamo Laura – der ‹Sbagliato› wurde übrigens in dieser Bar hier erfunden…»

Ich muss sagen: Die Sache schmeckte nicht schlecht. Ein bisschen wie Fanta mit Eistee gemischt. Beim dritten Glas bekam ich noch Details serviert: Negroni – das komme von Camillo Negroni. Der Baron habe sich in Verona stets diesen Aperitiv mixen lassen. Beim fünften Glas war ich bereit, Stinchen den miesen Hoteltipp zu verzeihen. Und gegen ein Uhr morgens gab ich den Sardellenbrötchen, die der Barkeeper mir zu seinem «Sbagliato» hinschob, fünf von Ernestines Serviettenringen. «Sie müssen etwas essen, bello signorino» – hatte er geflüstert.

«Bello signorino» gab nicht nur Höchstnote. Sondern auch ein Trinkgeld, von dem die Bar Basso noch heute spricht…

PS. Um zwei Uhr morgens war das Hotel­zimmer noch immer nicht gemacht. Und ich musste Stinchen nun doch etwas den Kopf stutzen. «Der Früchtekuchen wird hier mitnichten handwarm serviert!»

Dienstag, 28. April 2015