Vollrasur

Die Zeit warf dunkle Schatten auf ihn.

Fritz betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Und was er sah, liess ihn erschaudern: eine Frybourger Weidenkuh in Männergestalt.

«BIIIIEEENE!» – das war Alarmstufe eins. Sonst rief er sie «Bienchen». Aber jetzt «BIIIEEENE!».

Sie surrte sofort herbei.

Vera erkannte an der Vibration seiner Stimme, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Und dann noch im Badezimmer – seit Jahren schon löcherte sie Fritz, sich nicht total zu ­rasieren. Besonders jetzt, wo er langsam tattrig wurde... was da alles passieren konnte!

«Bin schon da, Schnorchelmaus!»

«SCHNORCHELMAUS» WAR DAS KOSEWORT, DAS IHN SEIT 45 JAHREN WIE EIN ­5-mg-VALIUM ­AUFHELLEN KONNTE.

In seinen Augen loderte die Panik. Ansonsten loderte gar nichts mehr. Sein Gesicht war mit Rasierschaum bedeckt, als hätte er einen Zirkus-Auftritt als weissen Clown hinter sich. Auch andere Stellen waren weiss. ABER NIRGENDWO BLUT AM TATORT! NUR NACKTE VERZWEIFLUNG – jawohl: nackte Verzweiflung. Diese Worte trafen es ganz genau.

«Was siehst du an mir?» – Fritz flüsterte mit ­Grabesstimme.

Seit Jahren schon gab es an Fritz nicht mehr viel zu sehen. Jetzt nur das lange, antike Rasier­messer, mit dem er sich täglich schabte. Das Instrument war eine Marotte von ihm.

«Ist die Klinge stumpf?» – versuchte es Vera mit einer Gegenfrage.

Er schaute sie anklagend an: «Die Flecken. Überall wuchern Altersflecken. Sogar unter dem Bauch. Ich sehe aus wie ein aufgeblasener Dalmatiner...»

Jetzt schluchzte er wirklich: «UND DANN DIESE WARZEN! Ich dachte so etwas sei für eine ­spezielle Gattung von Schweinen reserviert. SCHAU MICH AN: überall Geschwüre und ­Flecken, als hätten die Jahre dich zugeschissen!»

Vera dachte an ein Gespräch, das sie kürzlich mit ihrer Tochter geführt hatte. Sandra hatte getobt, ihr Karl stecke in einer Midlife-Krise. Er würde jetzt joggen und nur noch Gemüse essen – dazu pfundweise Pillen gegen Haarausfall.

«Es wird sich geben...», hatte Vera sie getröstet. Und gewusst: «ES GEHT NIE VORBEI! – mit den Männern ist es wie mit vergessenem Hühnerfleisch. Sie stinken bald. Und das Verbraucher-Datum ist verdammt schnell abgelaufen...»

Mit 50 hatte sich Fritz zum ersten Mal total rasiert. «HYGIENISCHER!», erklärte er Vera.

Aber sie wusste, er hatte eine Affäre mit seiner Sekretärin gestartet. Da musste alles rundum ­aufgefrischt werden.

Er trug jetzt auch verwaschene Jeans. Und liess sich neue Zähne einschrauben. Die Übrig­gebliebenen bleichte er imn Weiss amerikanischer Pissoirkacheln.

Mit 65 wechselte er die Freundinnen gegen ­Jahrgangsweine. Und ging auf den Golfplatz.

Und mit 75 stand er nun als Jammerlappen vor dem Badezimmerspiegel.

Als gescheite, aufgeschlossene Frau hatte Vera dies alles immer lächelnd übersehen. Auch die Totalrasur. Und die Hotelrechnungen, die sie in seiner Kitteltasche fand.

ABER JETZT WAR GENUG. VERA WOLLTE NOCH ETWAS VOM LEBEN HABEN. (Und ein ­Warzenschwein war nun nicht gerade das ­Haustier, das sie sich für ihre letzten Jahre gewünscht hatte.) «Soll ich dich rasieren, ­Schnorchelmaus?» «Ach Bienchen!»

Auf dem Kommissariat heulte Vera dem Ermittlungsbeamten dann zünftig etwas vor: «...Es war schrecklich... er bekam plötzlich einen Nies­- anfall... und da ist es passiert...ich war immer gegen dieses verdammte Rasiermesser. Es gehörte noch seinem Grossvater...»

Der Fall wurde als «KASTRIERTE SCHNORCHELMAUS» unter den Polizeiakten abgelegt...

Das Rasiermesser hat Vera dann mit einem ­Schulterzucken («was soll ich noch damit?») ihrer Tochter vererbt. Armer Karl.

Montag, 20. April 2015