Von der Lyoner-Seite und einer Foto

Illustration: Rebekka Heeb

Es gibt Leute, die meinen es gut. ABER ICH KÖNNTE SIE ERWÜRGEN. Sie schleppen alte Fotos an. Und das Schlimme: Es sind Fotos von mir. «Ist das nicht grossartig?», hecheln sie wie Hunde, die ein Stück von der Wurst erwarten.

Ich schaue auf die Foto. Und was ich sehe, lässt mich weinen: EIN ­SCHÖNER, JUNGER MANN. OHNE SCHNAUZER. OHNE FETT AN DEN HÜFTEN. ABER MIT ­ÜPPIGEN ZAPFENLOCKEN! Da schellt mich doch die Tusse von einer dieser wunderbaren Fernsehsendungen, wo es um Beziehungsprobleme geht und zwei Parteien einander unglaublich ordinäre Schimpfwörter an den Kopf schmettern, um so die Quote nach oben zu treiben… aus diesem fulminanten ­Familientwist schellt mich also doch tatsächlich eine parkierte Velofahrerin vors Haus.

Die Foto, die sie mir entgegenstreckt, gibt dann den Rest: «SO WAS VON GEIL. Sie waren ja ein verdammt heisser Feger…» WAREN!!! Hätte ich Arsen zur Stelle, würde ich sie zum Tee hereinbitten.

Natürlich wahre ich den Comment. Den hat die Grossmutter (vornehmer Part) mir eine Kinderzeit lang eingedrillt: «Es ist der Comment, der den Mob von der Upper Class unterscheidet…», hiess ihr Wort zum Tag. Und dann versuchte sie es auch diesem unmöglichen, nagelkauenden und Regenwürmer fressenden Enkel klarzumachen: «Nicht jeder Klöpfer kann ein Lyoner sein…»

Ich habe lange nicht kapiert, was sie damit meinte. Aber mein Vater (Klöpferseite) sprach da eine deutlichere Sprache: «Deine Grossmutter scheisst höher, als ihr Arsch runterhängt…»

Wie gesagt: Mit der Lyoner-Seite konnte es mein Vater nicht so speziell.

Zurück zur Foto. Und zu dieser Tusse in blauen Wollstrümpfen. Sie hat einem Nylonrucksack gebuckelt. Und lehnt lässig an einem Velosattel. Ihr einziger Most: Strampelenergie und ein Halb­literfläschchen «stilles Wasser» an den dünnen Lippen: «Ich hab bei meiner Omi aufgeräumt. Sie ist jetzt 96. Und muss ins Altenheim. Da lag dieses Bild zwischen zwei von diesen Geschichtlein…»

«DIESEN GESCHICHTLEIN!» – WO IST DER NÄCHSTE HAMMER?

Jetzt stellt doch dieser hausgestrickte Troll tatsächlich sein Damenvelo an meine (MEINE) Hausmauer. Und blabbert fröhlich weiter: «Die Omi las ja sonst nur Todesanzeigen und die Wochenhits von Denner – ABER VON IHNEN HATTE SIE ALLE BÜCHLEIN. ALLE. Und dies bei ihrer Mindestrente! Immer an der Messe hat sie sich eines geholt, weil man dazu ­diesen roten Papiersack bekam … die Tasche war ihr wichtiger als das Buch … und jetzt haben wir alles dem Altpapier mitgegeben.»

«Aber die Foto hier…» Sie blinzelte mit ihren müden, hellen Wimpern: «…also, ich dachte: Das wird ihn freuen – da radle ich bei dem doch mal vorbei. Zuerst habe ich mich allerdings beim Bestattungsamt schlaugemacht, ob sie überhaupt noch leben. ABER DIE WUSSTEN NICHTS VON EINEM GRAB. UND HIER BIN ICH…» Oh, wäre sie doch so still, wie ihr Wasser, das sie konstant vom Flaschenhals saugt!

Ich koche. Und zwar auf 120 Grad. Die Foto zeigt mich , wie ich in den 70er-Jahren den Stand mit damals ostdeutschen Weihnachtskugeln schmücke. «Das bin nicht ich», sage ich nun. «Das ist eine Verwechslung. Ich hatte nie Zapfenlocken…»

Das mit den Fotos passiert mir leider nur allzu oft. Immer lächle ich, als müsste ich soeben James Bond auf die Matratze legen. Und stets erscheint mir die abgemagerte Figur wie ein Ausrufezeichen, das laut hinausschreit: «SCHAU NUR – DAMALS HAST DU DICH AUF 59 KILOS STILLGEHUNGERT!»

Ja. Habe ich. Aber fragt nicht nach dem ­Mundgeruch! Niemand stinkt scheusslicher aus dem Mund als Weissweintrinker beim Apéro und Menschen, die auf fettloser Diät sind… Die Fotos mit dem Hungerturm, dessen Augen immer nur so gross hervorstehen, weil sie irgendwo eine ­Cremeschnitte in einem Bäckereifenster gesehen haben – diese Fotos machen mich traurig. Sie erinnern an eine Zeit, als nicht nur Afrika ­hungerte.

UND DAS BILD FRAGT STUMM: WIE KONNTE ES SO WEIT KOMMEN? SO WEIT. UND SO SCHWER… Deshalb verleugne ich die magern Zeiten: «Nein. Das bin nicht ich!»

Nun ist die Velofahrerin aber total perplex: «Aber hören Sie … da hinten auf der Foto steht doch: ‹Für Louise, mit liebem Gruss…›»

Sie holt Luft: «Louise ist meine Omi. UND DAS GEKRITZEL MIT DEM STRICH DA SIND DOCH SIE!»

«Sie verwechseln da etwas», sage ich nun eisig, wos langgeht, «das hier ist der Popsänger Claude Pfau. Er hat die Countdowns gegründet. Meinen Sie wirklich, ich sei mal mit solchen ­Plateauschuhen rumgestochert…»

Sie schaut mich nun kritisch von oben bis unten an: «Jetzt wo Sies sagen … der auf dem Bild ist ja auch nicht fett. Und dann diese Haare. Und der Knackarsch…»

Automatisch habe ich den Bauch eingezogen, sodass sich alles Schwere nach oben verlagert und der dritte Hemdenkopf mit einem leisen «pfffft» explodiert. VOLLTREFFER! Direkt auf die spitze Nase mit dem grossen Pickel drauf…

«Leider muss ich gehen. Ich habe oben eine Besprechung …», erkläre ich dem Sattel-Troll nun resolut. Und schlage vielleicht etwas zu ­temperamentvoll die Türe ins Schloss. Jedenfalls höre ich hinter dem Eingang, wie mir die Wasserflaschen-Tusse mit dem «stillen Inhalt» ziemlich laut «SIE ARSCHLOCH» durchs stabile Pfortenholz nachruft.

Und da kapiere ich endlich, was meine ­Grossmutter (Lyoner-Seite) mit «Klöpfer» und Comment gemeint hat…

Dienstag, 14. April 2015