Treue

Sie sassen in der Stube. Wortlos. Aber auf leise Art glücklich.

Lucie strickte an einem Shawl für ihren Grossneffen. Farbe: Rot-Blau.

Patricks Herz schlug für den FCB. Und neuerdings auch für eine gewisse Sandra.

Lucie schaute mit einem zärlichen Lächeln über die vibrierenden Stricknadeln zu Walti. Der war in sein Sudoku vertieft. Und knurrte genervt. Irgend- etwas mit den Zahlen wollte nicht aufgehen…

Lucie hatte den Sinn eines Sudoku nie ganz begriffen. Doch wenn Walti schlechte Laune hatte, weil er die fehlende Ziffer nicht fand, wusste sie die Lösung: «Deine Tulpen im Garten sind einfach traumhaft, Walti. Niemand hat einen besseren grünen Finger als du…»

Alle Register ziehen

Für Lucie war Walti wie eine Kirchenorgel. Sie wusste stets welches Register sie zu ziehen hatte.

Jedenfalls hüstelte ihr Ehemann ein ganz klein wenig selbstgefällig: «Wichtig ist eben, wie tief man sie einsetzt, Lucie…»

Und schon ging sie voll in die Pedale: «WAS DU ALLES WEISST, WALTI…»

Vergessen war das ungelöste Sudoku.

«…was ist das Rezept?», hatte Aldo, der älteste von Lucies Neffen, kürzlich gegrinst. «Ich meine – hat es in den letzten 50 Jahren keinem von euch mal ausgehängt!? Kein Bock auf einen andern Rock Onkel Walti?»

Wo ist da der Kick?

Lucie schüttelte leicht pikiert den Kopf:

«DEIN ONKEL WAR DIE TREUE AUF ZWEI BEINEN. Walter hatte seine Prinzipien! Und früher nahm man Treue eben noch ernst, Aldo! Eine Beziehung gabs nicht einfach mal schnell im Internet zu haben. Man holte so etwas nicht aus den Supermarkt-Regalen. Eine angehende Freundschaft war etwas Kostbares. Und keiner warf sie weg, nur weil einem beim andern plötzlich etwas gegen den Strich ging – eine Beziehung wurde gehegt, wie eine kleine Pflanze. Aus dem Blümlein ist ein Strauch geworden. Aus dem Strauch ein Baum…»

«DAS IST JA WIE ABGESTANDENE ZUCKER­TORTEN!», schüttelte sich Aldo stöhnend: «WO IST DA DER KICK?»

Lucie startete wie eine Luna-1-Rakete: «Findest du es nicht lächerlich, wenn ein Mann von bald einmal 60 Lenzen noch immer hinter einem Kick her hechelt…»

«MEIN KICK IST EIN STÜCK VON LUCIES APFELWÄHE!», wechselte Walter jetzt schnell das Thema.

(Auch er wusste, wie man die Orgel bei Lucie zu spielen hatte. Jedenfalls warf sie ihm einmal mehr einen zärtlichen Blick zu. Und flüsterte. «Du bist mein Bester!»

Als Aldo gegangen war, setzte sich Lucie zu ihrem Mann. Sie nahm seine Hände in ihre. Und druckste herum: «Also – bevor wir jetzt die goldene Hochzeit gross feiern, muss ich dir etwas gestehen…»

Er schaute sie lächelnd an: «Ja?»

Nur ein einzigs Mal

«Von wegen Treue…einmal, ein einziges Mal nur wurde ich schwach…»

Sie machte eine Pause: «…Alex war dein bester Freund. Ihr stecktet immer zusammen. Ihr ward Skifahren – dann auf diesem Segelturn in der Karibik. Immer zu zweit. Ich war eifersüchtig auf diese Männerfreundschaft. Und da hat mich eben der Teufel geritten…»

«Ich weiss», lächelte Walter. «Alex hat es mir erzählt… wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Irgendwie gehörten wir zwei genauso zusammen, wie du und ich, Lucie. Es stimmte so für beide – und so stimmte es auch für uns drei.»

«Es war eine andere Zeit…», sagte Lucie.

Beide schwiegen nun.

Schliesslich öffnete Lucie das Fenster: «Deine Tulpen sind wirklich schön, Walti…»

Montag, 13. April 2015