Von der alten Primadonna und der Casa Verdi

Illustration: Rebekka Heeb

Die Alte stützte sich auf den Rollator. Sie hatte Rouge auf ihren faltigen Bäckchen – es sah aus, als würde Abendrot über eine aufgerissene Strasse aus­gegossen. «Sono Lucia», stellte sie sich nun vor. «LUCIA DI PARMA – SIE ERINNERN SICH?»

Ich war ein stummes Fragezeichen. Und das gefiel Frau Lucia gar nicht. Also gab sie etwas Schützenhilfe: «1946. Gleich nach dem Krieg. Zuerst im San Carlo von Neapel. Dann hier an der Scala. LA GRANDE LUCIA, LA DIVINA!»

Lucia rüttelte nun missbilligend an ihrem Karren, so dass dieser gereizt drauflosschepperte. «SIE SIND WOHL KEIN GROSSES LICHT, SIGNORE?» Was kann man da schon sagen?

Ich betrachtete die kleine, dünne Frau mit dem viel zu grossen, grünen Deckelhut (jeder weiss: Kleine Frauen sollten keine grossen Hüte tragen – sie sehen damit aus wie Pilze).

Am Rand des Ungetüms zitterte in einem Schleierfeld ein Busch roter Kirschen. Zu früh für die Jahreszeit.

Und unter dem Deckel quollen Monroe-blonde, künstliche Locken hervor – ein bisschen wie bei diesen Puppen, die in den 50er-Jahren an Tombolas als Hauptgewinn zwischen Teddybären eingebettet auf einem Regal kleine Mädchen und Tucken anlockten.

«Aber von Lucia di Lammermoor haben Sie schon gehört?», liess die Frau in ihrem elfenbeinfarbigen Spitzenrock nicht locker: «Sie wissen doch, das ­Mädchen mit dem gebrochenen Herzen. Und mit der Wahnsinnsarie am Schluss.»

Sie summte etwas vor sich hin, das wohl den musikalischen Wahnsinn markieren sollte. Dabei schaute sie verklärt zum Himmel, wo sich allerdings nichts klärte: nur grauer Mailänder Mief. Oder «die Waschküche des Nordens», wie der Süden immer wieder über das Wetter der Lombarden die Nase rümpft.

Eigentlich wollte ich das Grab von Verdi besuchen. Der Komponist liegt in einer feudalen Gruft. Neben ihm ruht seine zweite Frau. Die Gruft wiederum findet man in einer schlossähnlichen Villa, die Verdi als Stiftung für abgedankte Sängerinnen und Sänger in Mailand erbauen liess: LA CASA VERDI.

Wer sich Schmids Dokumentarfilm «Bacio di Tosca» reingezogen hat, weiss: HINTER DIESEN MAUERN IST JEDER TON SCHRILLE GESCHICHTE.

Das Hutzelköpfchen schaut mich nun misstrauisch an: «Da kommen Sie nicht rein, guter Mann!»

Sie zupfte mit ihren feinen Händchen, an denen die Nägel wie rote Blutstropfen funkelten, am etwas verlausten Pelzcape: «Die schotten alle Besucher ab. Die Concièrge ist ein richtiger Drache. Da muss man schon Beziehungen haben...»

Sie musterte mich von oben bis unten. Und schüttelte mit einem Schnauben den Kopf, so dass sich eine der falschen Locken erschrocken auflöste: «Sie sehen nicht aus, als ob Sie Beziehungen hätten.»

Nun zuckelte das Persönchen mit dem Rollator auf mich zu: «Dort drüben ist das Caffè Milano. Kommen Sie! Die Cornetti sind zwar nicht mehr wie früher. Damals war der Teig noch luftig und leicht wie die Arme der Carla Fracci. Haben Sie in der Scala je die Fracci als Königin der Willis gesehen...?»

Fragezeichen.

«WAS WISSEN SIE EIGENTLICH VON GROSSEN MOMENTEN DIESER MUSIKSTADT?!», knurrte das energische Persönchen nun. Aber da hockten wir auch schon auf abgewetztem Plüsch vor einem erblindeten Goldspiegel. Lucia liess sich heisse Schokolade bringen. Und gab sie auch gleich wieder zurück: «Das ist keine 90-prozentige Bitterschokolade. Das ist irgend so ein Pulverzauber.»

«Signora...», versuchte der Kellner eine Erklärung anzubringen.

«NICHT MIT EINER LUCIA DI PARMA!», donnerte es.

«Jawohl, Signora!» Daraufhin hatte das Caffè Milano eine Viertelstunde Service-Pause, weil der Kellner verschwand, um im Supermarkt nach einer Tafel Bitterschokolade (90%) zu suchen.

«Man darf im Leben nicht alles durchgehen lassen!», schaute Lucia mich nun streng an. «Sie sind auch so ein Weichei-Typ. Das sehe ich an Ihren dicken Fingern. Und an den wulstigen Lippen. Die Schokolade dampfte endlich in einem Porzellankännchen an.

«Nur für Sie zubereitet, Signora!», sülzte der Kellner und machte eine Verbeugung.

«Na also – wird doch!» Lucia di Parma schaute triumphierend zu mir. «Nur mit Strenge und Disziplin kommt man zum Ziel. Auch in der Kunst. Und speziell in der Oper. Wenn ich an all diese Sängerinnen von heute denke – kürzlich hat eine doch tatsächlich die Mimmi als aidskranker Junkie spielen müssen. NICHT MIT MIR! ZU MEINER ZEIT HATTEN DIE HERREN ­REGISSEURE NOCH DAS ZU TUN, WAS IHRE PRIMADONNEN VORSANGEN – sonst hätten wir denen schon Töne beigebracht.»

«Sie haben also gesungen...», machte ich auf nette Konversation. Und biss den Zipfel vom Gipfel.

Sie fischte eine Handvoll vergilbter Fotos aus dem Brokattäschchen: «Das war ich. Traviata. 1954. In der Scala, wie Sie sehen, habe ich stets auf meine Linie geachtet. Nicht wie andere Sängerinnen, bei denen ein ganzer Theatervorhang kaum für einen Rock gereicht hätte. Haben Sie Birgit Nilsson gekannt?»

Sie gab sich die Antwort selber: «Aber natürlich nicht. Da könnte ich ja auch diese Ständerlampe dort fragen. Also – ich habe anno 58 mit ihr gesungen. Die Nilsson war so breit wie lang. Und geizig war sie – so etwas glaubt man ja nicht! Toscanini hat von ihr gesagt, sie sei einfach ein Musikautomat: «Werft oben 10 Lire rein. Und unten kommen Töne raus.» Lucia di Parma kicherte bösartig. Und erhob sich: «Ich habe jetzt meine Master Class. Wenn Sie wollen, können Sie mich zum Nachtessen ausführen. Bei Biffi, in der Galleria. Aber kommen Sie mir nicht auf schmutzige Gedanken. Ich kenne Männer Ihres Schlags!»

Da war sie auch schon verschwunden.

Ich bezahlte die Rechnung, auf der 100 Gramm Bitterschokolade auf preislicher Höhe mit einer Weltreise gleichzog – in der Villa Verdi erwartete mich Signora Anna-Maria, um mir das Haus zu zeigen:

«Es wohnen etwa 80 Musiker, Sängerinnen und Sänger hier... wir sind eine etwas schräge Familie...»

In diesem Moment ratterte Lucia di Parma vorbei. Sie trug nun einen schwefelgelben Veloursrock.

«Wer ist sie?», flüsterte ich Anna-Maria zu.

«Signora Parma war Altistin im Chor der Scala ... sie ist gespickt mit wunderbaren Geschichten...»

«Ja», nickte ich, «davon habe ich die Ouverture zu hören bekommen...»

Ich winkte der kleinen Frau zu, deren Perücke jetzt etwas auf die schiefe Bahn abgerutscht war: «Hallo, Signora Lucia...»

Die Sängerin schenkte mir diesen Blick, den sie wohl auch für einen pinkelnden Hund übrig hat. Sie ratterte mit ihrem Rollator wortlos an mir vorbei.

Und so bin ich alleine bei Biffi essen gegangen.

Dienstag, 7. April 2015