Von den Pariser Monaten und der Kroketten-Zeit

Illustration Rebekka Heeb

Georges war ein Weichei. Mutlos. Er lebte in seiner ­verlogenen Welt.

Ich meine: Er ging allen Schwierigkeiten aus dem Wege.

Daran musste ich denken, als «der Kreis», dieses bejubelte Schweizer Film-Lamento über ein trauriges Schwulenleben über mich hereinbrach.

Ich habe Georges in der Pariser Oper kennengelernt. Vorne tanzte Nurejew. Hinten stand ich. Es war die Zeit, als ich dem russischen Tänzer und dessen pompösem Paket im Tricot überall hin nachreiste.

Natürlich beachtete mich Nurejew nicht.

DAS WAR EIN FEHLER! Ich war knapp 20. Und mehr als beachtenswert (wers nicht glaubt: Ich habe alle Dankesbriefe aufbewahrt!)

JEDENFALLS: GEORGES WURDE SOFORT AUFMERKSAM.

Er sass. Ich stand. Also offerierte er mir seinen Sitzplatz, dann in einer Gay-Bar ein Glas Veuve-­Cliquot Und so schleppte er mich ab.

«SCHLAMPE!» – werden Sie denken. Aber so tickte das in den 60er-Jahren. Zumindest war ich so gestrickt: offengelebtes und offengeliebtes Schwulenleben.

Er brachte mich an die 40, rue St-Paul – kaum einen Steinwurf von der Bastille entfernt. Hier gings sechs Stockwerke hoch durch ein lichtloses Treppenhaus. Es stank nach Urin und Schlimmerem.

«Armer Student», dachte ich. Und nahm auch diese einzige Nasszone in Kauf, die aus einem tropfenden, krummen Wasserhahn über dem sandsteinigen Abwaschtrog bestand.

NOCH MEHR DETAILS? – Vielleicht, dass die Toilette sich aus diesen zwei vergilbten Emaille-­Tritten zusammensetzte, wo man nie recht weiss, was, wo und wie es zu tun ist. Es gab eine Toilette für vier Wohnungen pro Stockwerk. WUNDERT ES JEMANDEN, DASS ICH HEUTE IM «RITZ» ABSTEIGE?

Georges war ein wunderbarer Lover. Und ich habe für ein paar Momente sogar das XXL-Paket von Nurejew vergessen. Am Morgen wuschen wir uns am Sandstein. Und bei der Bastille pfiff er einem Wagen: «Jetzt gehen wir frühstücken!»

Das Auto hielt vor einem der grössten Pariser Hotels bei den Champs-Elysées.

«Georges!» – ich protestierte. Was musste er mir hier auch den grosskotzigen Macker vor­tanzen. Ein kleines Bistro mit Café au lait wäre ebenso recht gewesen. Insbesondere da noch die Klamotten vom Vorabend an meinem Ranzen ­herumgurgelten – sie waren durchgeschrumpelt wie die Backen einer 90-jährigen Babuschka. Wir hatten uns –Action! Action! – sofort wild aufs Bett geworfen. Und zu jener Zeit waren Hosen noch nicht aus knitterfreiem Polyester.

Der Portier, ein Mann in makellosem Frack mit einem Hut auf dem Kopf, wie es Glücks-Kamin­feger tragen, riss die Taxi-Türe auf. Er machte eine kleine Verbeugung: «Bonjour Monsieur Georges!»

Irgendwie ging das nicht so ganz mit der Vier-Parteien-Toilette zusammen. Und als wir dann im grossen Esssaal an ein Tischlein mit dem Silberschild «PRIVE» geführt wurden, war mir klar: HALLOHALLO – AB MIT NUREJEW IN DIE VERSENKUNG! ES LEBE DER NEUE PRINZ!

Georges liess sich einen Teller mit Spiegeleiern bringen. Ich nahm Grapefruit. Und seine Hand. Er schüttelte mich ab, als hätte sich ein Blutegel auf seine Finger gelegt: «Tu es fou!» Ich solle sofort mit dem Mist aufhören. Hier wisse niemand über die Sache mit der Absteige Bescheid. Schon gar nicht «La chère Maman».

Die gute Mama entpuppte sich als miese Nummer im Spiel. Sie besass den Hotelkasten. Und nur einen Sohn. Dunkle Schatten fielen auf meine Grapefruit und eine Stimme wie eine Kreissäge liess mich sofort gerade sitzen: «Georges, qui est ce garçon?!»

«Je suis le petit Suisse sucré», versuchte ich es auf Comédie-Art.

Die Mutter kniff die Augen zusammen, wie die Schlange vor dem Zubiss. Und Georges traktierte mein Wadenbein unter dem Tisch: «C’est un copain de l’Université – il cherche un travail chez nous!»

WAS WAR DAS? ARBEIT IN DIESEM KASTEN! Aber immerhin hatten sie Toiletten mit Sitz und Spülung. Also sagte ich zu. Und es wurde dies daraus, was ich in meinem späteren Curriculum Vitae als «Kroketten-Periode» beschrieb.

Man führte mich in die Küche. «Le Chef» zeigte mir, wie goldgelber Kartoffelteig in fingergrosse Würstchen geformt wird.

UND AB INS HEISSE ÖLBAD!

9 Monate lang habe ich krokettiert. WER SO ETWAS DURCH DIE FINGER ROLLEN LIESS, WEISS, WESHALB ER HEUTE NUR NOCH FRITTEN BESTELLT!

Immerhin – etwas Gutes hatten die neun Monate als Krokettier: Ich hatte eine anständige Toilette. Denn obwohl es dem Personal bei Geldbusse verboten war, die Gästetoiletten des Hotels zu benutzen, schiss ich drauf.

Immer wieder habe ich Georges gelöchert: «Wäre es nicht vernünftiger, klaren Wein einzuschenken?»

«Das verstehst du nicht», sagte er.

Und ich kapierte, dass er ein Feigling war.

Kurz vor Weihnachten liess mich Madame ins Büro rufen. Sie bekam wieder die engen, kleinen Schlangenäuglein. Händigte mir ein Couvert aus. Und zischte: «Sie werden heute abreisen, mon petit Suisse sucré. So lange Sie hier sind, wird Georges nie heiraten. Und er braucht eine gute Frau in seinem Hotelleben.»

Der Chauffeur brachte mich zum Nachtzug nach Basel. Ich heulte bis Mulhouse. Dann öffnete ich das Couvert. Es waren französische Francs drin. Und eine Abrechung «…abzüglich Toiletten- Busse».

Viele Jahre später bin ich wieder nach Paris zurückgekehrt. Das Quartier des Marais war jetzt frisch renoviert. Die Häuser zeigten sich aufgerüscht wie alte Huren. Jede der überteuerten Wohnungen hatte zwei Toiletten, Bad und Douche.

Als ich all meinen Mut zusammennahm und beim Hotel vorfuhr und beim alten Concierge nach der Familie fragte, schaute er traurig: «Monsieur Georges hat sich unter den Zug geworfen … La Maman lebt in einer Alten-­Residenz in Cannes.»

Ich habe nicht geweint. Ich hatte für meine Pariser Tage keine Tränen mehr. Nur noch Wut: Weshalb hatte er nicht einfach reinen Tisch gemacht?

Das Leben ist immer ein Kampf.

Aber man muss es so leben, dass man sich ­selber nicht belügt.

Dienstag, 31. März 2015