Vom Besuch im Bundeshaus und von grauem Stein

Illustration Rebekka Heeb

Das Bundeshaus hat mich nie heiss gemacht. Einfach nicht.

Wenn jemand mit Sissi und Schneewittchen gross geworden ist, hatten Herrscher­häuser anders auszusehen:

MEHR GOLD.

MEHR TÜRMCHEN.

MEHR GLANZ.

Als Politiker und Gewerkschafter hatte mein Vater allerlei Beziehungen zum Bundeshaus. Er schleppte alles und jeden hin. Es gibt kaum einen Bergbauern in Adelboden, der mir heute nicht mit geröteten Augen die feuchten Hände entgegenstreckt: «Dyn Ättel hett mi denn no is Bundeshuus brocht…»

Ähnliches passiert mir mit einstigen Trambilleteusen, die am Rollator auf mich zusteuern: «Also der Papa war ja noch eine Nummer … im Aufgang zur Zuschauertribüne hat er mir… na ja, du weisst ja, wie er war…» Dann rattern sie mit ihren Gehhilfen wieder weg. Und lassen mich rätseln.

Es gab keine Freundin, die Vater nicht unter die Berner Kuppel begleiten musste. Selbst meine Mutter hat es hinter sich bringen müssen. Und Tante Gertrude kam käsebleich von Bundesbern zurück: «Dieses Haus sehen. Und alles verstehen – jedenfalls kapiere ich jetzt, weshalb unsere Politiker gratis Gemütsaufheller verschrieben bekommen…» Natürlich waren solche Kommentare nicht in Vaters Sinne. Er sah Bern als etwas Edles. Wuchtiges. Etwas, auf das wir Schweizer stolz sein sollten. «JEDER MUSS DIESEN ERHABENEN MOMENT MAL GESPÜRT, ERLEBT UND GEATMET HABEN…», sang er die Hymne zum Tag.

NUR ICH SAGTE: «NEIN DANKE!»

Wer sich als kleiner, schöner Bub beim Besuch von Sissis Schloss Schönbrunn im Thronsaal versteckte und dem tobenden Wärter später ins Gesicht schrie: «Ich wurde als Säugling verwechselt, Sie Arsch… ich gehöre hierher unter die Krone!» Also so ein sensibles Kind kapierte schon bald: Das Bundeshaus mit seiner Klotz-Kuppel in der Form eines umgestülpten Wandererrucksacks wirds dem Buben nicht bringen.

Deshalb: «Fickt mich – lieber noch Schloss Lenzburg!»

Mein Vater ging von dieser traurigen Welt mit dem schrecklichen Gefühl eines Mankos. Er hatte seinem Stammhalter «diesen heiligen Ort nie zeigen dürfen» – einen Ort, wo politische Fäden wie auf Tante Irmas Klöppelkissen gezogen werden.

UND NUN DIES: Interview mit einem Kollegen aus Kinderzeit. Ich meine: gemeinsame Tanzstunden und Benimm-Drill bei Frau Bickel … überhaupt viel Gemeinsames: die Spät-68er-Jahre mit dem ersten reingepfiffenen Joint … und Geometrie als Shit- sowie Latein als Lieblingsfach.

SO ETWAS VERBINDET!

F. ist Ständerat und: «… wenn du schon nach Bern kommst, zeige ich dir das Bundeshaus!»

Es ist erstaunlich, dass bei Schweizer Politikern die Zeit zwischen meinem Vater und heute stehen geblieben ist. Da ich mittlerweile den Wunsch zur Sissi-Krone an den Nagel gehängt habe (und falls, meine Telefonnummer habt ihr ja!) und obwohl ich von Schweizer Politik nur so viel verstehe, dass wir im Vergleich zu den österreichischen Abgeordneten und dem derzeitigen griechischen Finanzminister optisch ziemlich krass dastehen und nicht mehr das hergeben, was Vater Tell mit seinem Waschbrettbauch und dem geilen Old-Daddy-Bart einst versprach, also: Obwohl ich die Schweizer Politiklandschaft nicht ganz durchschaue und bis vor fünf Jahren noch meinte, Herr Blocher sei der Fabrikant mit der dunklen Schokolade, all dem zum Trotz flötete ich: «ABER GERN! ICH WAR NOCH NIE IM BUNDESHAUS!»

Stille am andern Telefonende. Und dann ein Aufjauchzen: «DAS TRIFFT SICH JA WUNDERBAR. WIR HABEN EBEN FRISCHE VORHÄNGE AUFGEHÄNGT UND JETZT AUCH LATTE MACCHIATO IM CAFE.»

Auf dem Bundeshausplatz stand etwas ratlos eine Gruppe von Japanern (oder waren es Chinesen? – Haben Sie da auch immer so Mühe?), jedenfalls konnten sie nicht so recht glauben, was sie sahen: einen leeren Platz. Und ein düsteres Haus, vor dem einige Sicherheitsbeamte herumstanden, wie in Tokio bei der Gepäckkontrolle. Ich kenne diesen Platz vom Sommer her. DA IST ER WIRKLICH GROSSARTIG! Wasserfontänen jagen wie der Schweizer Frankenkurs in die Luft. Und Kinder holen sich kreischend ein Pfund Wasser auf die Jeans. Irgendwo spielt ein rumänischer Handorgelspieler das Lied vom «Adelbodner Vogellisi». Und Emmi-Joghurt verteilt eine neue Geschmacksnote. WILL MEINEN: IM SOMMER IST DA STETS WAS LOS. Doch jetzt ist Pause auf dem Platz. Nicht ein einziger, lausiger Demonstrant. Kein quengelndes Sprachrohr der Gerechtigkeit. KEINE PAMPHLETE! Ich meine, wenn ich da an Rom und den Montecitorio denke, ist das hier die Wüste.

NUN DENN – BESCHAULICHKEIT KANN KEINER FOTOGRAFIEREN. Und diese Uniformträger mit ihren Hosen, die an einen verlorenen Sennenaufstand erinnern – SO ETWAS WILL KEIN JAPANER (oder Chinese?) AUF SEINEM SELFIE! (Ich schliesse die Augen. Denke an die knackarschigen Uniformen der Spanier und Italiener. Und an deren Bewerbungsauflagen: IQ UNTER 50 – MASSE ÜBER DURCHSCHNITT. Gut und satt geformt. Dabei alles so frech verpackt, als käme es direkt von der Musical-Bühne. Jedenfalls so, dass man es auch als Souvenir verkaufen kann.)

JETZT STELLE SICH EINER MAL UNSEREN SICHERHEITSBEAMTEN IN SEINER HANDORGELHOSE ALS KUNSTSTOFF-FIGÜRCHEN AUF EINEM JAPANISCHEN BUFFET VOR.

«Ich muss zu Herrn F.», mache ich mich an einen der Bundeshaushüter. «Weiss er, dass Sie kommen?» «Wir haben ein Date …», versuche ich es mit rheinischem Humor. ABER HUMOR ZÜNDET HIER NICHT. DAS GEHT NUR BEI MÜLLER-GIACOBBO! Hier wirds ernst. Deshalb: ab zur Sicherheitskontrolle. Jacke ausziehen. Uhr vom Handgelenk schälen. Und dann ist es nur noch das künstliche Kniegelenk, das Alarm schlägt.

Zwei Bären warten zur Begrüssung. Bronze. Mit Schweizer Wappenscheibe an der Brust.

Ich hocke auf kaltem Marmor. Über der grossen Freitreppe, die für den Aschenputtel-Abgang vielleicht noch etwas hergegeben hätte, stehen die drei Eidgenossen. Alles sehr furchteinflössend. Alles in Stein. Alles grau. Und alle drei die Finger ganz nahe zusammen – so als müssten sie an Handschellen genommen werden. Ein Dingdong-Gong kündet die Mittagspause der Parlamentarier an. F. kommt die Freitreppe herunter. Er ist weder Prinz noch Aschenbrödel. Aber er ist strahlender Gastgeber: «Und? – Was sagst du jetzt?» «JEDER MUSS DIESEN ERHABENEN MOMENT MAL ERLEBT, GEATMET, GESPÜRT HABEN!» – Es sind die Worte meines Vaters.

Ich machte das V-Zeichen zum Himmel.

UND DORT SEHE ICH ES: DAS BASLER WAPPEN IM GLAS. Was für ein grossartiger, einziger Augenblick!

Dienstag, 24. März 2015