Vom Fasnachtsvirus und dem Aufhören

Illustration Rebekka Heeb

«Das wars. Ich höre auf!»

In der Beiz war es plötzlich still. Alle stierten ungläubig auf Marie. Eigentlich nannte sie keiner so. «Myggy» – so riefen die Cliquenfreunde die Pfeiferin, die schon seit über 60 Jahren in der Clique mitmarschierte. Myggi spielte erste Stimme – ihr Ansatz war kräftig. Breit. Ein Ton, der trug.

Wie eine Lokomotive pflügte sie den Tross durchs Chaos. Unbeirrt pfiff sie auch bei tosendem Gugge-Geschränz und donnernden Trommelgruppen weiter. Nie liess sie sich drausbringen. Sie war verlässlich. Gab den Ton an. Alles hörte auf sie. Und jetzt:

«DAS WARS. ICH HÖRE AUF!»

Es war Max, der Tambourmajor, der als Erster wieder Worte fand: «MYGGY – DAS IST JETZT ABER NICHT DEIN ERNST … DU KANNST DOCH SO KURZ VOR DER FASNACHT NICHT DEN ­BETTEL HINWERFEN!»

Doch. Konnte sie. Und wollte sie auch.

«Niemand ist unersetzbar», lächelte sie die alte Weisheit aller, die sich aus dem Staub machen. Und: «Ich weiss, ich hätte es euch früher sagen sollen … glaubt nicht, dass mir die Entscheidung leichtfällt …»

«Doch», dachte sie, «erstaunlicherweise fällt es mir verdammt leicht; vor fünf Jahren noch hätte ich geglaubt, der schönste Tod erreicht dich am Morgestraich, wenn du Frau Fasnacht mit einem Exitus in die Arme fällst! Licht ab. Trommelwirbel. Aus.»

Sie hatte das erlebt – damals, als Päuli nach den ersten drei Takten den Löffel, respektive die Trommelschlägel abgegeben hatte. Er lag flach auf dem Boden. Sein Kopflaternchen flackerte auf dem Trottoir. Und die Clique ruesste weiter. Unbeirrt. Bis der Tambourmajor dann doch merkte: Etwas stimmt da nicht.

Ein Chaos wars. Der Krankenwagen kam nicht durch. Zu viele Leute. Sie hatten den leblosen Päuli in die «Hasenburg» getragen. Nie würde sie den Anblick vergessen: Die Larve war leicht verrutscht. Und sie sah das kalkweisse Gesicht mit den toten Augen.

Myggy hatte damals die Larve wieder zurechtgerückt – auch eine Fasnachtsleiche sollte ihre Würde haben.

Am Grab, eine Woche später auf dem Muttenzer Friedhof, und nachdem die Trommler auf abgespannten Kübeln Paulis Lieblingsmarsch ­ «s Ysebähnli» hingelegt hatten, faltete der Pfarrer die Hände: «Die gute Frau Fasnacht hat ihn zu sich genommen …»

NICHT DER LIEBE GOTT.

NICHT DAS SCHICKSAL.

NEIN.

FRAU FASNACHT!

Seit jenem Tag konnte Myggy das Wort von der guten Frau Fasnacht nicht mehr hören. ES WAR EINFACH NUR RÄPPLIKITSCH!

Als kleines Mädchen war sie mit ihrem Wunsch «ein Piccolo – ich will pfeifen!», so ziemlich alleine dagestanden.

Niemand in der Familie war mit dem Fasnachtsvirus infiziert gewesen. Aber man liess Maria den Willen. Schickte sie in eine renommierte Clique. Und war etwas ratlos über das, was Myggeli als ihr «Fasnachtsfieber» ausgab.

Das Schicksal wollte es, dass Myggelis Ehemann aus Zürich kam. Und mit Fasnacht ebenfalls nichts am Hut hatte. Im ersten Jahr ihrer Ehe war er am Laternen-Sonntag dabei gewesen. Und musste sich ziemlich peinliche Sprüche über seinen Dialekt anhören.

Zu Hause hatte er protestiert. «Ich finde so etwas nicht lustig; es ist einfach nur schäbig, haben die Basler keine andern Spott-Themen als Zürich?»

Maria protestierte lachend. «Aber es ist doch Fasnacht, Guschti, da darf man nicht alles auf die Goldwaage legen.»

Fertig lustig. Guschti floh künftig die drei (wie die Basler glauben) «tollsten» Tage. Und wählte die andere Route – die Langlaufpiste im Engstligental.

Die ersten Zweifel kamen an der letzten Fasnacht. Die Clique – mittlerweile marschierte Myggy (hinten links) in der gemischten alten Garde – war ein ansehnlicher Haufen von grauen Panthern. Sujet: «Grau, aber schlau!». Es war Montag nach dem Nachtessen. Und sie wollten die Laterne auf den Münsterplatz bringen.

Am Rheinsprung spürte Myggi, wie ihr Herz hämmerte. Die Schläge klopften bis zum Hals. Aber was früher vielleicht Rührung war, war hier einfach ATEMNOT. Sie hatte keine Puste mehr. Und dies ausgerechnet beim «Waggis» mit seinen hohen Tönen und den schrillen Läufen.

Sie merkte, wie ihr unter der Larve alles zu drehen begann. Gottlob waren sie beim Platz mit den vielen Laternen angelangt.

«Du bist ganz weiss!», schaute Trudy, ihre Cliquenfreundin, sie prüfend an, als sie die Larve abnahm. Dann schob sie ihr eine Coramine-Lutschtablette zu: «Ich nehme auch immer wieder eine – wir sollten das Tempo drosseln!»

Myggy schaute um sich. Und mit einem Schlag wurde ihr bewusst: Sie war alt geworden – alt wie die Fasnacht. Und schlimmer noch: alt wie ihr grau gelocktes Umfeld. Das Alter graute überall. Auch bei den andern: die Frauen mit grauen Haaren, die sie mit einem Stirnband zusammenhielten. Hildi lief im Vortrab erstmals am Stock, und bei den Tambouren pfiffen die Ohrenverstärker.

«Komm – wir nehmen einen Tee Rum», nahm Trudy sie bei der Hand.

Myggy lächelte: «Es war ein langer Tag: Morgestraich, die Route, die happige Steigung am Rheinsprung – ich gehe heim!»

«Ja, klar – ruh dich gut aus. Wir brauchen deine erste Stimme morgen», lachte Trudy, «also tschüssi – bis um drei Uhr vor dem ‹Schlüssel›.»

Dienstag war stets ihr liebster Tag gewesen. So etwas wie Ausbruch aus den Fesseln. Weg von dem Cliquen-Zwang. ANARCHIE.

Sie waren fünf Frauen, die alleine «uff d Gass» abzwitscherten. Immer mit einem Sujet. Diesmal waren sie «Düpfi uss em Club de Bâle».

Die Kostüme sahen heiss aus. Die Larven: junge Weiblein mit frechen Schnuten und langen Wimpern – Letztere so stark gebogen wie Skyboard-Tubes. Doch als nach der ersten Runde dann diese verschwitzten alten Äpfel hervorkamen – nein! Irgendwie rannte man da falschen Hoffnungen nach.

O.k. Vielleicht war die Fasnacht ja dazu da. Aber nicht mit Myggy. Sie stellte sich vor, wie die alten Runzeläpfel auf die jungen Fasnächtler wirken würden – irgendwie peinlich. Ausgelutscht. So wie diese Königinnen, die nie abdanken konnten.

«Ich brings einfach nicht mehr», sagte Myggy in die betretene Runde, «und die Fasnacht bringts mir auch nicht mehr!»

Zu Hause schob sie eine Lasagne in die Mikrowelle. Und entkorkte eine Rotweinflasche. Am Tisch prostete sie Guschti zu: «Bemerkenswerter Tag, Schatz – ich habe mit Frau Fasnacht Schluss gemacht!»

Er schaute sie ungläubig an: «Und das heisst?»

«Ich komme mit dir auf die Langlaufpiste!»

Jetzt guckte Guschti mit grossen Augen: «LANGLAUFPISTE? – ABER LIEBES, ICH MACHE SEIT ZEHN JAHREN KEINEN LANGLAUF MEHR – MIR FEHLT EINFACH DIE LUFT!»

Immerhin – das Leben war auf allen seinen Pisten gleichermassen gerecht!

Dienstag, 10. Februar 2015